Entführungen in Nigeria: Erste Freilassungen und anhaltende Sorge | ABC-Z

Die Familien von 100 entführten Schülern in Nigeria können aufatmen: Die Kinder kamen nach rund vier Wochen wieder frei. Doch viele Schüler sind weiter verschleppt, und die Eltern bangen um ihre Rückkehr.
Ängstliche Eltern drängen sich im Haus des Gouverneurs des Bundesstaates Niger im Norden Nigerias zusammen. Sie warten voller Hoffnung auf ihre Kinder. Endlich rollt eine Kolonne von Bussen und weißen SUVs auf das Grundstück.
In den Fahrzeugen sitzen 100 Schulkinder, die rund zwei Wochen in den Händen von bewaffneten Entführern gefangen gehalten wurden. “Ich dachte, wir kommen nie zurück. Ich dachte, sie würden uns umbringen”, berichtet Onyeka Chieme. “Aber als wir im Camp angekommen sind, hat der Anführer uns gesagt, dass wir keine Angst haben müssen. Sie wollten nur Geld, und wenn das bezahlt sei, würden alle freigelassen.”
Chieme ist eins von den mehr als 300 Kindern, die am 21. November zusammen mit ihren Lehrern aus dem St-Mary’s-Internat in Papiri verschleppt wurden. Es war die bisher größte Massenentführung in Nigeria. 50 Kinder konnten in den ersten Stunden nach dem Überfall entkommen.
Onyeka Chieme stand Todesängste aus – nach einer Zahlung von Lösegeld kam sie wieder frei.
Quälende Ungewissheit
Stephen Samuel war eines von ihnen. Er habe in einem unbeobachteten Moment entkommen können, erzählt er, und sei dann gerannt, bis er einen Nachbarn getroffen habe. Der habe ihn dann nach Hause gebracht.
Die Eltern von Stephen gehören zu den Glücklicheren. Ihnen sind die Wochen der Ungewissheit über das Schicksal ihrer Kinder erspart geblieben. Samaila Livinus dagegen quälen die Sorge und die Ungewissheit um das Schicksal seines fünfjährigen Sohns.
Wenn er gestorben wäre, wüsstest du: Er ist für immer weg. Du könntest ihn beerdigen, und er kommt nie wieder. Aber so hast du keine Ahnung, was er durchmachen muss. Bekommt er genug zu essen und kann er sich wenigstens waschen?
Ideologie ist dem Geschäft gewichen
Schulkinder sind beliebte Ziele in einer wachsenden Entführungswelle in Nigeria, die 2014 angefangen hat. Damals verschleppte die islamistische Terrormiliz Boko Haram fast 280 Schülerinnen aus einem Internat in Chibok.
Kriminelle Banden taten es ihnen danach gleich, denen es längst nicht mehr um Religion oder Ideologie geht. Denn mit Entführungen lasse sich sehr viel Geld verdienen, weiß Erklärt Effiong Ikemesit von der Sicherheitsfirma SBM Intelligence Consultancy. Selbst Gruppen, die früher eine Ideologie vertreten hätten, sähen das Erpressen von Lösegeld jetzt nur noch als Geschäft, um mehr Waffen zu kaufen und um sich einen besseren Lebensstandard zu verschaffen.
Fast 1.800 entführte Schulkinder seit 2014 zeigen, wie erfolgreich das kriminelle Geschäft ist.
Für die Betroffenen ist es ein Albtraum. Florence Michael erzählt, dass sie und ihre Mitschüler zwei Wochen lang im Busch im Freien campiert hätten. Sie hätten auf Plastikplanen geschlafen und Wasser aus einem Fluss getrunken, in dem die Frauen Wäsche gewaschen hätten.
Die Entführer hätten ihnen gedroht, dass sie ja keinen Lärm machen sollten. Wenn Flugzeuge zu hören gewesen seien, hätten sie sich unter den Planen oder unter Bäumen verstecken müssen, damit keiner das Camp aus der Luft finden konnte.
Ihre Leidenszeit ist zu Ende: freigelassene Schülerinnen und Schüler der St. Mary’s Catholic School.
Nicht nur Christen betroffen
Das St-Mary’s-Internat ist eine katholische Einrichtung. Aber es sei nicht so, dass die kriminellen Banden gezielt Christen angreifen, wie es US-Präsident Donald Trump behauptet hatte, betont Daniel Atori, Sprecher der Gemeinschaft der Christen in Niger State. Das geschehe auch Muslimen. Und in St Mary’s würden sowohl christliche als auch muslimische Kinder unterrichtet.
Die nigerianische Regierung steht unter Druck, etwas gegen die Kriminellen zu unternehmen. Trump droht, notfalls militärisch einzugreifen.
Und die verängstigten Eltern im eigenen Land verlangen bessere Information durch die Regierung. Monica Anthony kritisiert, dass die Regierung sie lediglich aufgefordert habe, zu beten – sie werde die Kinder schon zurückbringen. Die Eltern fragen, warum die Sicherheitskräfte die eigene Bevölkerung nicht schützen könne obwohl die Regierung jede Menge Geld in ihre Ausrüstung gesteckt habe.
Ermutigt durch Lösegeldzahlungen?
Die Täter müssen kaum Konsequenzen befürchten, stellt der Sicherheitsberater Effiong Ikemesit fest. “Viele von ihnen fühlen sich dadurch ermutigt, immer weiterzumachen.”
Vor allem, weil offenbar immer wieder Lösegeld gezahlt wird. Die Regierung bestätigt nicht öffentlich, dass sie so die ersten 100 Kinder befreit habe. Umar Bago, der Gouverneur des Bundesstaates Niger, drückte sich vage aus. Man sei eben froh, dass man einen Teil der Kinder freibekommen habe.
“Jetzt ist nicht der Zeitpunkt, über andere Themen zu sprechen.” Die Regierung rechne damit, dass auch die andere Hälfte der Kinder “sehr bald” freigelassen wird.
“Ich kann nicht schlafen und nicht mal essen”
Etwa 150 Kinder und ihre Lehrer werden noch vermisst, darunter der Bruder von Onyeka Chieme. Für Vater Anthony sind die Sorgen noch nicht vorbei. “Ich kann nicht schlafen und nicht mal essen”, sagt er.
Aber selbst, wenn alle Vermissten unversehrt zu ihren Eltern zurückkehren – die Angst vor neuen Massenentführungen bleibt.
Die Regierung hat bereits 50 Internate kurzfristig geschlossen. Der 13-jährige Stephen Samuel fürchtet um seine Zukunft. “Was, wenn diese Leute zurückkommen”, fragt er. “Können wir überhaupt wieder in die Schule gehen? Und in welche Schulen?” Er fürchte, dass für ihn die Schule vorbei sei.






















