„Es könnte dunkel werden“ – 7 Gründe, warum die AfD im Oste stärkste Kraft ist | ABC-Z

Die AfD wurde bei der Bundestagswahl im Osten fast überall stärkste Kraft. Trotz jahrelanger Warnungen von Experten wächst die AfD weiter und weiter. 7 Gründe, warum das so ist.
Es war die Flüchtlingskrise, die der AfD 2015 kurz vor dem Versinken in der Bedeutungslosigkeit neues Leben einhauchte. Die Partei wandelte sich von einer eurokritischen Gruppierung zum Sprachrohr gegen Migration und nahm immer populistischere und auch rechtsextreme Züge an. Und es dauerte nicht lange, da war klar: populistische Parolen verfangen im Osten Deutschlands viel leichter als im Westen. Das gilt auch für die Kritik am alten politischen Establishment, an den alten Volksparteien Union und SPD, welche damals die „Willkommenskultur“ verantworteten.
Bei der Bundestagswahl hat sich nun wiederholt, was erstmals bei der Europawahl offenbar wurde: Die AfD ist im Osten mittlerweile in vielen Regionen die stärkste Partei. Wie im vergangenen Juni wählte der Osten am 23. Februar fast geschlossen mehrheitlich Blau, die AfD gewann 47 von 50 Wahlkreisen. Im Westen hingegen gewann die AfD keinen einzigen Wahlkreis, hier dominieren noch die Parteien der alten Bonner Republik, vor allem die Union.
Hier sind die Hauptgründe, die zu diesem harten Bruch an der einstigen innerdeutschen Grenze führen, die quasi eine neue Grenze verursachen.
1. Gehaltsgefälle von 17 Prozent
Das Argument ist nicht neu, aber gerade deswegen überrascht es: Auch dreieinhalb Jahrzehnte nach der Wende existiert noch immer ein signifikantes Gehaltsgefälle von 17 Prozent zwischen Ost und West. Laut dem Karriereportal „Stepstone“ liegt das Jahresdurchschnittsgehalt im Osten derzeit bei 37.250 Euro – 7750 Euro niedriger als im Westen mit 45.000 Euro. Viele Wähler nennen dies als einen der ersten Gründe, wenn man sie fragt, warum sie AfD wählten.
2. Cultural Backlash
Steffen Kailitz, Totalitarismusforscher der TU Dresden, sieht als Hauptgrund für das deutlich stärkere Abschneiden der AfD im Osten den „Cultural Backlash“. Damit ist eine kulturelle Gegenreaktion gemeint, die Entwicklungen, die vom politischen Mainstream als fortschrittlich bewertet werden, ablehnt. „Dies betrifft vor allem das Thema Migration, die als existenzielle Bedrohung der kulturellen Identität verstanden wird. Und es existieren Vorstellungen von einer Wiederbelebung von als ‚traditionell‘ angesehener deutscher Werte“, sagte Kailitz zu FOCUS online. Zwar gebe es solche Tendenzen auch im Westen, doch sei im Osten das Potenzial für diese Positionen deutlich höher.
Verschiedene Politiker der AfD bedienen nationalistische Sehnsüchte immer wieder. Und zwar manchmal so sehr, dass Gerichte Protagonisten wie den thüringischen AfD-Chef Björn Höcke für Aussagen („Alles für Deutschland“) zu hohen Geldstrafen verurteilen, weil sie aus der NS-Zeit stammen und als Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen gelten.
3. Fühlen sich als Verlierer der Modernisierung
Als weiteren Faktor nennt Kailitz eine „wahrgenommene sozioökonomische Benachteiligung“ im Osten. „Es betrifft vor allem diejenigen, die sich als Verlierer der Modernisierung fühlen und sich in Konkurrenz zu Migrantinnen und Migranten auf dem Arbeitsmarkt sehen.“
Und das führe dann wiederum dazu, dass immer mehr Ostdeutsche meinen, Geld für Migrantinnen und Migranten sollte lieber den Deutschen im Osten gegeben werden, um gleiche Lebensverhältnisse mit dem Westen zu schaffen.
Das greift die AfD natürlich auf. Selbst AfD-Chefin Alice Weidel spricht inzwischen ganz ungeniert von „Remigration“ in großem Stil. Das Institut der Deutschen Wirtschaft hingegen erklärt: „Ausländer klauen den Deutschen nicht ihre Arbeitsplätze – wie mancher meint –, sondern tragen wesentlich zum Beschäftigungswachstum bei.
Damit leisten sie einen wichtigen Beitrag, um unseren Wohlstand zu sichern“, so Fabian Semsarha, Referent für Fachkräftesicherung. Mehr noch: in Deutschland seien „insbesondere Sachsen-Anhalt, Sachsen, Thüringen, Mecklenburg-Vorpommern und Brandenburg aufgrund ihrer Altersstruktur dringend auf die Zuwanderung von Arbeitskräften angewiesen“.
5. Politische Entfremdung
Kailitz macht zudem eine „politische Entfremdung“ dafür verantwortlich, dass im Osten mehr Menschen AfD wählen, weil sie mit den Transformationsfolgen einer modernen und schnelllebigen Gesellschaft nicht klarkommen.
Das sieht auch das Institut für Wirtschaftsforschung ähnlich – und ergänzt: „Populistische Parteien finden vor allem in Regionen Zuspruch, in denen eine hohe Zahl älterer Wahlberechtigter lebt und in denen die Menschen mit wenig Zuversicht in die Zukunft schauen. Auch eine hohe Unzufriedenheit mit der eigenen wirtschaftlichen Situation begünstigt ein solches Wahlverhalten“, sagt Joachim Ragnitz, Vize-Chef des Ifo-Instituts Leipzig.
Die AfD verspricht ihren Anhängern zum Beispiel, die Lage würde sich bessern, wenn Deutschland aus der EU austräte und den Euro abschaffte. Führende Wirtschaftsexperten sehen das allerdings ganz anders und prognostizieren, dass vor allem AfD-Wähler wirtschaftlich darunter leiden würden.
6. Abwahl alter Regierung wichtiger als neue Koalition
Nach Ansicht des Erfurter Politikwissenschaftlers André Brodocz von der Universität Erfurt ist ein weiterer wichtiger Grund für den hohen Stimmengewinn der AfD im Osten, dass dort weit mehr Wählern eine Abwahl der Ampel-Koalition wichtiger war als die Bildung einer neuen Koalition. „Wer Scholz oder vor allem Habeck auf keinen Fall mehr haben wollte, für den war die Wahl der AfD eine sichere Bank, sagte Brodocz der FAZ. Diese Wähler wussten, dass ihre Stimme die Koalitionsbildung wohl erschwert.
7. Geringere Repräsentation von Ostdeutschen in Eliten
Die nach wie vor unterdurchschnittliche Repräsentation der Ostdeutschen in der wirtschaftlichen, aber auch politischen Elite des Landes treibe der AfD im Osten Wähler in die Arme, meint Kailitz. „Das führt zu einem in Ostdeutschland stark verbreiteten Gefühl, Bürger zweiter Klasse zu sein.“
AfD auch im Westen stärker, aber auf viel niedrigerem Niveau
Die AfD hat auch in westdeutschen Bundesländern stark zugelegt, aber auf einem deutlich niedrigeren Niveau. Während die Spitzenwerte in bevölkerungsstarken Bundesländern wie NRW, Bayern und Baden-Württemberg zwischen knapp 17 und 20 Prozent lagen, holte die AfD in Sachsen und Sachsen-Anhalt mehr als 37 Prozent und in Thüringen mit 38,6 Prozent fast doppelt so viel wie die erfolgreichsten Verbände im Westen.
Einen weiteren Aufstieg der AfD zu stoppen und verloren gegangene Wählerstimmen zurückzugewinnen, werde den Parteien der wohl neuen Bundesregierung nicht gelingen, wenn sie es nicht schaffen, wieder „die Wirtschaft zum zentralen Thema der nächsten Jahre zu machen und die Migration aus dem Fokus zu nehmen“, hält Politikwissenschaftler Kailitz fest.
Wenn man die Bundestagswahlergebnisse der AfD als potentielle Wahlergebnisse bei Landtagswahlen im Osten versteht, „dann wird es dunkel“, warnt Kailitz. Er schätzt die Wahrscheinlichkeit als hoch ein, dass die AfD vor allem in Thüringen, Sachsen und Sachsen-Anhalt Ergebnisse um die 40 Prozent einfahren könnte. „Es gäbe dann keine realistischen Möglichkeiten mehr, noch eine stabile Mehrheit ohne AfD zu bilden.“