Energiepolitik: Großbritannien schließt sein letztes Kohlekraftwerk – Politik | ABC-Z
Bilder aus Ratcliffe-on-Soar sehen immer gleich aus: grüne Wiesen, Backstein-Häuser und im Hintergrund die acht dicken, qualmenden Kühltürme. Ratcliffe-on-Soar ist ein Dorf in Nottinghamshire, mitten in England, etwa 150 Einwohner, eine Kirche. Bekannt wegen des gewaltigen Kohlekraftwerks, das es hier seit den 1960ern gibt. Die BBC befragte zuletzt ein paar Einwohner, ein Raymond sagte, wenn sie von einer Reise hierhin zurückkamen, hätten sie schon von Weitem die Türme gesehen, „das war nett, denn dann wussten wir, wir sind zu Hause“. Eine Lyn mochte besonders die Studenten und Künstler, die das einzigartige Ensemble fotografierten und zeichneten. Sie klang wehmütig, denn von jetzt an soll alles anders werden.
Am Montag wurde das Kraftwerk in Ratcliffe-on-Soar geschlossen, es war das letzte noch aktive im Vereinigten Königreich. Es ist ein historischer Moment in der Energieversorgung, ein Symbol. Denn nun steigt die Nation aus der Kohle aus, die als erste damit begann – das erste Kohlekraftwerk der Welt wurde 1882 in London errichtet.
Und Großbritannien steht damit nicht allein. Nach einer aktuellen Studie der britischen Analyseorganisation Ember ist der Energieträger Kohle vor allem in Europa und Nordamerika auf dem Rückzug. Von den 38 Ländern der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) sind bereits elf aus der Kohle ausgestiegen, darunter die Schweiz, Österreich, Belgien und die Slowakei. Insgesamt ging die Stromproduktion durch Kohle in den OECD-Ländern seit dem Höhepunkt im Jahr 2007 um mehr als die Hälfte (52 Prozent) zurück, größtenteils ersetzt durch Solar- und Windenergie. Auch Erdgas wurde wichtiger. Die CO₂-Emissionen im Strombereich fielen in dem Zeitraum um 28 Prozent.
Weltweit allerdings erreichte der Kohleverbrauch und die Kraftwerkskapazität im Jahr 2023 ein Allzeithoch. Nach einem Report unter anderem der Organisation Global Energy Monitor aus San Francisco liegt das größtenteils an China, wo die Regierung in Reaktion auf eine Energieknappheit 2021 wieder erheblich mehr neue Anlagen genehmigte. Auch Indien baut weiter aus. Die beiden bevölkerungsreichsten Länder der Erde sind für mehr als 80 Prozent der aktuell weltweit geplanten neuen Kohlekraftwerke verantwortlich.
Anstelle der CO₂-Schleuder soll ein „clean energy park“ entstehen
Dennoch sehen Beobachter wie Christoph Bals, Geschäftsführer der Umweltorganisation Germanwatch, „dass sich in den G-20-Staaten und zunehmend in anderen Schwellen- und Entwicklungsländern eine Energierevolution abspielt“. Einerseits aufgrund einer rasanten Elektrifizierung von Bereichen wie Industrie, Verkehr, Heizen. Damit sinkt auch der Gesamtverbrauch, weil fossile Energieträger wie Benzin im Auto vergleichsweise ineffizient sind. Dazu wird Strom zunehmend durch erneuerbare Energien hergestellt, die immer billiger werden. Bei Solar, Wind und neuerdings Batteriespeichern gehen die Kurven steil nach oben.
So klang Mike Lewis kurz vor der Abschaltung in Ratcliffe-on-Soar nicht wehmütig, ganz im Gegenteil. Der britische Chef der deutschen Firma Uniper, der das Gelände gehört, sagte der BBC, das Aus der Kohle in Großbritannien sei ein „enorm wichtiger Meilenstein auf dem weltweiten Weg der Dekarbonisierung“. Statt des Kraftwerks soll dort ein „clean energy park“ entstehen.
Dabei wollte die gerade abgewählte konservative Regierung den Kohleausstieg noch einmal abblasen. Sie hielt es für eine gute Idee, in West Cumbria erstmals nach 30 Jahren ein neues Kraftwerk zu bauen. 500 neue Arbeitsplätze in der Region, aber eben auch 400 000 Tonnen an Treibhausgasen pro Jahr. Umweltorganisationen klagten gegen den Plan, aber noch bevor der Oberste Gerichtshof seine Entscheidung verkünden konnte, hatte die neue Labour-Regierung das Projekt begraben. Labour will stattdessen auf erneuerbare Energien setzen und dafür sogar eine staatliche Energiegesellschaft „Great British Energy“ gründen.
Solar- und Windenergie fangen den Wegfall der Kohleverstromung weitgehend auf
Der Wegfall der Kohleverstromung wurde im Vereinigten Königreich schon bislang weitgehend durch Solar und Wind aufgefangen, Erdgas ging hier ebenfalls leicht zurück, und auch der Anteil der Atomkraft schwindet seit Jahren auf zuletzt 14 Prozent im Strommix. Die Analysten von Ember fanden mehrere Gründe dafür: Beschluss des Kohleausstiegs 2015, CO₂-Steuer, Unterstützung für Offshore-Windparks im Meer, Energiegesetze zugunsten erneuerbarer Energien sowie Investitionen in die Stromnetze. Politische Mittel, die auch Deutschland einsetzt.
Die Bundesrepublik gehörte zwar 2023 zu einem von nur noch vier Ländern der OECD, in denen Kohle für mehr als Viertel der Stromerzeugung genutzt wurde. Mit 27 Prozent lag sie nur hinter Polen, Australien und Tschechien. Doch auch hierzulande zeigt sich ein Trend: Abgesehen von einem Zwischenhoch in der durch Russlands Krieg in der Ukraine ausgelösten Energiekrise, geht die Kohlenutzung kontinuierlich zurück. Im vergangenen Jahr fielen sowohl Stein- wie Braunkohle auf die niedrigsten Werte seit den 1950er- und 1960er-Jahren, 2024 sieht ähnlich aus. Dabei spielt auch das Schwächeln der Wirtschaft eine Rolle, die weniger Energie nachfragt.
Widerstandslos will sich die weltweite Kohle-, Öl- und Gasindustrie allerdings nicht aus dem Markt drängen lassen. Die fossile Lobby wisse, sagt Christoph Bals, dass bei Fortsetzung des Trends jetzt bei Kohle, und schon in wenigen Jahren auch bei Öl und Gas ihr Geschäftsmodell in den Schrumpfmodus übergeht. „Sie setzen Himmel und Hölle, auch unter Inkaufnahme der Unterminierung der Demokratien, in Gang, um das zu blockieren“, erklärt er.
So verlief auch in Großbritannien der Abschied von der Kohle nicht durchgehend konfliktfrei. Schon als Anfang der 1980er-Jahre die Regierung von Premierministerin Margaret Thatcher, damals aus Kostengründen, erste Minen schließen ließ, kam es zu teils gewalttätigen Protesten. Besonders heftig war es am 18. Juni 1984, als 6000 Polizisten auf eine riesige Menschenmenge in South Yorkshire trafen. Die Beamten ritten los, setzten Schlagstöcke ein, es flogen Steine. Am Ende setzte sich Thatchers Regierung durch. 40 Jahre später schließt Großbritannien seinen Kohleausstieg nun ab.