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Schilf-Glasflügelzikade bedroht Anbau von Kartoffeln und Gemüse | ABC-Z

Die deutschen Landwirte schlagen Alarm. Der Befall durch die Schilf-Glasflügelzikade bedroht den Anbau von Zuckerrüben und neuerdings auch von Kartoffeln und zahlreichen Gemüsearten wie Karotten, Rote Beete, Sellerie, Zwiebeln, Freilandpaprika, Chinakohl, Rhabarber und Rotkohl.

Die Zikade überträgt zwei Erreger – das Proteobakterium Candidatus Arsenophonus phytopathogenicus und das Candidatus Phytoplasma solani. Beide verursachen schwere Schäden bei den befallenen Pflanzen. Da viele Pestizide verboten wurden, sind die Bauern den Schädlingen zum Teil wehrlos ausgeliefert.

In einem offenen Brief haben sich ihre Verbände hilfesuchend an die Entscheidungsträger in Bund, Land, Forschung und Verwaltung gewendet und die dramatische Situation geschildert. Die Befallsfläche, so heißt es dort, nehme jährlich zu, da die Insekten immer weiter von Süden nach Norden vordrängen.

Im Anbaujahr 2024 beziffern die Bauernverbände den Befall allein bei Zuckerrüben auf mehr als 75.000 Hektar. In manchen Gebieten lassen sich demnach bereits Populationen von mehreren Hunderttausend Exemplaren je Hektar Anbaufläche nachweisen.

Ernteverluste und dramatische Auswirkungen

Die daraus folgenden Schäden sind den Landwirten zufolge enorm. Bei Zuckerrüben beträgt der Zuckerertragsverlust demnach 50 Prozent und mehr, bei Kartoffeln und Gemüse droht sogar der Totalverlust. Darüber hinaus ist die Lagerfähigkeit der befallenen Produkte stark reduziert. „Der Zuckerrübenanbau steht in Deutschland vor dem Aus“, warnen die Verbände in ihrem Aufruf.

Die Schilf-Glasflügelzikade ist eine heimische Art, die früher auf der Roten Liste als gefährdet eingestuft wurde. Wie ihr Name andeutet, ernährte sie sich ursprünglich von Schilf. Mit der sprunghaften Anpassung an eine breite Palette von Nutzpflanzen ist sie zu einer existenziellen Bedrohung für zahlreiche Acker- und Gemüsekulturen geworden.

Kritische Situation in Hessen

In Hessen ist die Situation vor allem im Süden entlang des Rheins eklatant, wie es heißt. Je nach Witterungslage breite sich der Schädling weiter nach Norden aus, teilt der Hessische Bauernverband mit. Auch in der Wetterau seien schon Schilf-Glasflügelzikaden aufgetaucht.

Man habe bereits herausgefunden, dass keine Wirtspflanze essenziell für den Entwicklungszyklus der Zikade sei, was ihr ein riesiges Entwicklungspotenzial ermögliche. Das Insekt sei sehr mobil und könne mehrere Kilometer im Jahr zurücklegen, was die Verbreitung begünstige.

Verbandspräsident Karsten Schmal sagte, die Schilf-Glasflügelzikade stelle „eine ernsthafte Bedrohung für unsere heimische Landwirtschaft“ dar. „Wir müssen dringend Maßnahmen ergreifen, um die Ausbreitung dieses Schädlings zu verhindern und die Versorgungssicherheit regionaler Produkte zu gewährleisten.“ Je nach Region sei die Anbauwürdigkeit bestimmter Kulturen oder bestimmter Sorten und Reifegruppen (Kartoffel) schon jetzt nicht mehr gegeben.

Notfallmaßnahmen gefordert

Auf Initiative der Zuckerwirtschaft wurden mehrere Forschungsprojekte ins Leben gerufen, die unterschiedliche Ansätze verfolgen und erforderliches Grundlagenwissen erarbeiten. Der Zeitplan für die Entwicklung neuer Bekämpfungsverfahren ist jedoch lang, heißt es,. Mit einer Lösung ist allenfalls mittelfristig innerhalb einiger Jahre zu rechnen.

Daher fordern die Landwirte in ihrem Brandbrief die Notfallzulassung von Insektiziden, „bis ausreichend widerstandsfähige Sorten und neu entwickelte Bekämpfungsansätze zur Verfügung stehen, um die Existenz der landwirtschaftlichen Betriebe sowie der vor- und nachgelagerten Industrie zu sichern“.

Dass die Schilf-Glasflügelzikade Zuckerrüben befällt, ist nicht neu. Neu ist jedoch das Überspringen auf Kartoffeln und Gemüsearten. „Das ist ein überraschender evolutionären Schritt. Denn hierbei handelt es sich um ganz andere Pflanzenfamilien“, erklärt Andreas Vilcinskas, Leiter des Fraunhofer-Instituts für Bioressourcen in Gießen. Er befasst sich seit Jahren mit der Bekämpfung landwirtschaftlicher Schädlinge mithilfe der RNA-Interferenz und arbeitet dabei mit Industriepartnern wie Greenlight Bioscience zusammen. Diese hat auf Basis der Forschung ein RNA-Spray gegen Kartoffelkäfer entwickelt, das im vergangenen Jahr in den USA zugelassen wurde.

Hoffnungsträger RNA-Interferenz in der Entwicklung

Vilcinskas ist davon überzeugt, dass er und sein Team auch ein Mittel gegen die Schilf-Glasflügelzikade entwickeln können. Denn sie ist eng verwandt mit Blattläusen – und gegen die hat das Fraunhofer-Institut bereits ein Spray entwickelt. Daher sehen die deutschen Landwirte in Vilcinskas und der RNA-Interferenz einen Hoffnungsträger.

Doch so schnell wird daraus nichts. Denn die deutschen und europäischen Behörden sind noch dabei, Kriterien für die Zulassung von Präparaten auf Basis der RNA-Interferenz zu erarbeiten. Vilcinskas betont, dass es sich bei dem Verfahren nicht um Gentechnik handelt, sondern um eine vollkommen neue Wirkstoffklasse. Vor gut einem Jahr wurde unter Federführung des Bundesumweltamts, des Verbraucherschutz- und des Naturschutzministeriums eine Taskforce für die Erarbeitung der Zulassungskriterien ins Leben gerufen. Ein Ergebnis liegt noch nicht vor.

Die RNA-Interferenz ist ein natürlicher Mechanismus in den Zellen von Lebewesen mit einem Zellkern, der der zielgerichteten Abschaltung von Genen dient. Sie beruht auf der Erkenntnis, dass der Körper doppelsträngige RNA als Anzeichen einer Virusinfektion interpretiert und bekämpft. Sie kann die Ausbildung von Genen hemmen, indem sie die Messenger-RNA (mRNA) abbaut und so die Produktion bestimmter Proteine verhindern.

Bei Schad- und Vektorinsekten (Überträger von Krankheitserregern) wird das Verfahren angewendet, um die Herstellung lebensnotwendiger Proteine zu unterbinden. Die doppelsträngige RNA wird im Köper und in der Natur innerhalb weniger Tage abgebaut. Es entstehen keine giftigen Rückstände. Außerdem kann sie so modifiziert werden, dass sie ausschließlich beim jeweiligen Schad- oder Vektorinsekt wirkt und für andere Lebewesen ungefährlich ist.

Diese nach Ansicht von Experten bahnbrechende Entdeckung eröffnet neue Möglichkeiten in der Molekularbiologie und Medizin. Die beiden amerikanischen Forscher Andrew Fire und Craig Mello erhielten dafür 2006 den Nobelpreis für Medizin, nur acht Jahre nach Veröffentlichung ihrer grundlegenden Arbeit im Jahr 1998.

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