EM-Viertelfinale Niederlande gegen Türkei: Sieg der heranfliegenden Holländer – Sport | ABC-Z
Es hat bis zum Viertelfinale gedauert, um aus dem sportlichen Berlin wieder das politische Berlin zu machen. Die Hauptstadt hat diese Europameisterschaft bislang vor allem aus einer fußballerischen Perspektive genießen können: Österreicher, Niederländer, Spanier, Kroaten, Schweizer, Italiener – es zogen einige verspielt-freudige Völker in das Olympiastadion ein in den vergangenen Wochen. Sie sangen zu Rainhard Fendrich, sie tanzten naar links und naar rechts, sie feierten bei Siegen und trösteten sich bei Niederlagen mit Currywürsten am Zoologischen Garten. Von Politik fehlte dabei meist jede Spur.
Nun hatte sich das schon vor dem Anpfiff dieser Partie zwischen der Türkei und den Niederlanden geändert, als ein türkischer Fanmarsch durch die Stadt zog. Einige Anhänger zeigten dabei den Wolfsgruß, den der Verteidiger Merih Demiral nach dem Achtelfinale gegen Österreich gezeigt hatte. Er wurde zur Insigne eines Protests gegen die Uefa, die Demiral gesperrt und damit umso mehr Wolfsgrüße provoziert hatte. Der Fanmarsch wurde von der Polizei deshalb aufgelöst, was allerdings viele türkische Anhänger im Stadion nicht davon abhielt, die Geste ebenfalls zu zeigen.
Und dann saß auf der Tribüne nicht nur wie angekündigt der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan, sondern hinter ihm auch Mesut Özil. Der frühere deutsche Nationalspieler, dessen Brust das Tattoo eines Wolfes ziert, hatte seine Unterstützung für Demiral und dessen Geste schon Stunden zuvor mit einem Post auf Instagram publik gemacht. Nun sah der Weltmeister von 2014 in Berlin eine türkische Nationalmannschaft, die erneut eine intensive, spannende Partie bot – diesmal allerdings nicht gewinnen konnte. Mit 1:2 verlor die Türkei das Viertelfinale gegen die Niederlande, die nun am Mittwoch in Dortmund gegen England um einen Platz im Finale spielen werden.
„Es war eine richtige Schlacht“, sagte der Niederländer Stefan de Vrij. Die Türken hätten „ein großes Herz und viel Qualität“ gezeigt: „Wir mussten heute leiden, haben uns den Sieg aber verdient.“
Das große Talent der türkischen Mannschaft, es war bei all der Politik der vergangenen Tage fast ein wenig untergegangen. Es dauerte diesmal etwas länger als noch gegen Österreich, als Demiral in der ersten Minute das erste Tor geschossen hatte – dann aber wurde es offensichtlich.
Eine erste Drangphase der Niederländer mit mehreren guten Gelegenheiten überstand die Mannschaft von Vincenzo Montella, dann schlug sie zu: In der 35. Minute flog eine der stets gefährlichen Ecken in den niederländischen Strafraum, die Virgil van Dijk mit Mühe verteidigen konnte. Der zweite Ball allerdings landete bei Arda Güler, der eine Maßflanke auf den zweiten Pfosten schlug. Und es war – an dieser Stelle ist die Vokabel unumgänglich – ausgerechnet Samet Akaydin, der von dort zum 1:0 traf. Akaydin war für Demiral wieder auf den freien Platz in der Innenverteidigung gerutscht, mit demselben Auftrag: Hinten gegen wuselige Angreifer verteidigen, vorne Tore erzielen.
Neun Tore haben Verteidiger bislang bei der EM geschossen, vier davon allein jene der Türkei, die sich von nun an wieder auf ihre Stammdisziplin konzentrieren konnten. Wie schon gegen Österreich fühlte sich Montellas Mannschaft mit der Führung im Rücken ausgesprochen wohl und zog sich in ihre gut strukturierte Fünferkette zurück. Oranje durfte den Ball am Fuß haben, die Türkei hatte das Spiel in der Hand. Und setzte Nadelstiche: Güler traf mit einem Freistoß den Pfosten (56. Minute), wenig später hatte Kenan Yildiz eine Schusschance, die Bart Verbruggen parieren und der eingewechselte Wout Weghorst gerade so klären konnte.
In einer wilden Schlussphase haben die Türken noch zahlreiche Chancen
Ein ums andere Mal griffen zwar auch die Niederländer an, die meiste Zeit allerdings beachtlich ineffizient und unstrukturiert. Ein effektives Rezept gegen defensive Türken hatte Trainer Ronald Koeman seiner Mannschaft offenbar nicht mitgegeben, seine Taktik ohne großen Stürmer aus der ersten Halbzeit scheiterte jedenfalls krachend – weshalb sich die Niederländer dann der Mittel der Türken bedienten: Das zehnte Tor eines Verteidigers bei der EM nämlich erzielte in der 70. Minute Stefan de Vrij nach einer perfekten Flanke von Memphis Depay, der selbst zuvor schon zahlreiche Gelegenheiten ausgelassen hatte.
Die Komfortzone einer Führung im Rücken hatten die Niederländer ihrem Gegner damit entzogen – und damit jene Wildheit, die der türkischen Mannschaft innewohnt und die sie so beachtlich stärken kann, in Konfusion verwandelt. Die Niederländer wirkten nun drängender, sie spielten gezielter in den Strafraum und drehten sechs Minuten nach dem Ausgleich das Spiel: Eine diesmal flache Hereingabe von Denzel Dumfries erreichte am langen Pfosten Cody Gakpo im Zweikampf am Boden mit dem türkischen Verteidiger Mert Müldür, der den Ball zuletzt berührte, bevor er ins Tor trudelte.
Knapp zehn Minuten fiel die türkische Mannschaft nun in eine Art Dämmerschlaf – dann wurde sie erweckt von der ersten von vielen großen Chancen zum Ausgleich: Mehmet Celik kam am langen Pfosten etwas glücklich an den Ball, eine wundersame Grätsche des eingewechselten Micky van de Ven verhinderte das 2:2, kurz darauf scheiterte auch Aktürkoglus Versuch aus der Distanz an mehreren heranfliegenden Holländern. In der ersten Minute der Nachspielzeit war es dann Verbruggen, der die Niederländer rettete: Kilicsoy hatte den Ball mit dem Knie auf das Tor gebracht, es sollte die letzte Chance in einer wilden, hoch spannenden Schlussphase bleiben.
Sie mündete nach dem Abpfiff in Gesängen der Niederlande, die sich das beschwingte „Wij Houden van Oranje“ als Soundtrack für Siege im Stadion ausgesucht hatten, einen Song, der schon 1988 bei ihrem EM-Sieg durch deutsche Stadien lief. Der Oranje-Block tanzte nun durch die Ostkurve des Olympiastadions, die Mannschaft unten auf dem Feld ebenso, natürlich ging es auch von links nach rechts. Und in all dem friedlichen, freudigen Jubel über diesen sportlichen Sieg konnte man sehen, wie die Politik das Stadion und die Stadt wieder verließ: Die Delegation des türkischen Präsidenten Erdoğan würde noch am Abend die Heimreise antreten, hieß es im Protokoll.