EM 2024: Erzählt uns lieber Sommermärchen | ABC-Z
Mit dem Begriff des Märchens ist es so eine Sache. Im allgemeinen Sprachgebrauch steht er für etwas unbefleckt Schönes. Wenn etwas “wie im Märchen” ist, meint man damit nicht, dass Kinder allein in den Wald geschickt und dort von einer soziopathischen Einsiedlerin gefoltert werden oder dass Raubtiere Seniorinnen verspeisen. Das Märchen, so ist es gelernt, überschreibt seine krisenhaften Wendungen mit der Gewissheit des guten Endes – sonst wären die vielen Grausamkeiten auf dem Weg dorthin gerade für Kinder auch kaum zu ertragen.
Die Frage ist nun, wie kindlich es im Vorfeld einer Fußballeuropameisterschaft im eigenen Land zugehen darf, um das projektierte Sommermärchen 2.0 sicherzustellen. Durchaus irritierend ist in diesem Zusammenhang, dass es zuletzt aus dem Kreis der Nationalmannschaft laute Kritik an einer Dokumentation des WDR gab. Für den Film Einigkeit und Recht und Vielfalt waren Menschen mit der Aussage konfrontiert worden, dass zu wenige hellhäutige Deutsche auf dem Fußballplatz ständen – und 20 Prozent der Befragten hatten zugestimmt. Daraufhin kritisierte nach dem Nationalspieler Joshua Kimmich zuletzt auch der Bundestrainer Julian Nagelsmann nicht nur den Rassismus, den die Dokumentation sichtbar machte, sondern auch die Dokumentation selbst. Statt von einer Scheißhaltung der 20 Prozent sprach Nagelsmann gar von einer “Scheißumfrage” und zeigte sich außerdem schockiert davon, “dass solche Fragen gestellt werden – und auch dass Menschen darauf antworten”. Dass dieser Schock für die Notwendigkeit der Frage spricht, sah Nagelsmann offensichtlich nicht.
Seine Haltung, mit der er Joshua Kimmichs Eindruck explizit bestärkte, das Ganze sei “absolut kontraproduktiv” beim Ziel, “gemeinsam Großes zu erreichen”, scheint dabei so klar, wie sie in Deutschland potenziell mehrheitsfähig ist: Statt aus den Fehlern der Vergangenheit zu lernen, beginnt der öffentlich-rechtliche Rundfunk erneut damit, ohne Not den Fußball mit politischen Metadiskussionen zu überladen. Was für eine böse Hexe aber muss das sein, die in Abwesenheit problematischer Spieler (Mesut Özil) und problematischer Spielorte (Katar) einen Streit vom Zaun bricht? Man sollte sie in den nächsten Brunnen werfen.
Doch geht es hier zunächst einmal nicht um das Wohlgefühl von Mehrheiten, sondern um den Schutz von Minderheiten. Der aber gelingt nicht durch Verdrängung. Oder genauer: Er gelingt dann nur in einem trügerischen Moment des Erfolgs. Wie schnell sich die alles umarmende Euphorie ins Gegenteil verkehren kann, erlebte etwa England nach dem verlorenen Finale der Europameisterschaft im Jahr 2021 – nachdem mehrere Schwarze Spieler im Elfmeterschießen gescheitert waren und daraufhin rassistisch beleidigt und bedroht wurden. Damit bestätigte sich aber nur, was auch Thema der WDR-Dokumentation ist, bei allen Schwächen, die sie auch in ihrer zuspitzenden Vermarktung haben mag: Solange die Zugehörigkeit von potenziellen Rassismusopfern erfolgsabhängig ist, haben wir ein Problem mit – eben – Rassismus.
Die Frage ist dann, warum öffentlich-rechtlicher Journalismus nicht präventiv darauf hinweisen sollte. Und die Antwort ist wohl, dass sich viele von ihm – wie auch Nagelsmann und Kimmich – bewusst oder unbewusst für das Turnier etwas anderes wünschen, nämlich die Erzeugung einer positiven oder wenigstens die Nichterzeugung einer negativen Stimmung. Und ja, es gibt bis in die Gegenwart hinein professionelle Märchenerzähler, das ist nur leider keine Rolle für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk. Sportberichterstattung ist gerade hier bitte immer: Journalismus – und nicht bloß Unterhaltung, die Fußballverbände, Vereine und Medien gemeinsam betreiben. Sie muss kein Sommermärchen emotional vorbereiten. Sie kann es zeigen, wenn es stattfindet, kann eine positive Grundhaltung dazu haben, insofern sich darin – wie beim originalen Sommermärchen 2006 – gesellschaftliche Grundwerte wie demokratischer Zusammenhalt oder die Akzeptanz von Vielfalt mutmaßlich manifestieren. Zur Herbeiführung dieses Zustands muss die Sportberichterstattung aber nichts beitragen. Mehr noch: Sie muss hinterfragen, ob ein gesellschaftlicher Frieden im Erfolgsfall nicht grundsätzlich trügt.
Gesucht: ein Resonanzraum für die Stimmung im Land
Zugleich gilt auch, womit das Einkaufen teurer Fußballrechte immer wieder begründet wird: Öffentlich-rechtliche Sender sind nichts ohne ihr Publikum. Und man muss keine Umfrage zum Thema Umfragen machen, um zu ahnen, dass sich ein großer Teil dieses Publikums gerade keine Umfragen zum Thema Rassismus wünscht. Nagelsmann spricht hier mutmaßlich wirklich für sehr viele, die es auch so gelernt haben: Wenn der Ball oder etwas anderes mit deutscher Beteiligung rollt, verwandeln sich kritische Sportjournalisten in aufgeregte Fans, die einen Resonanzraum bieten für die gute oder miese Stimmung im Land, nicht mehr und nicht weniger.
Was es am Ende wohl braucht, ist ein Kompromiss aus beiden Tendenzen. Und das Verrückte ist: Man kommt ihm bereits nah. Lange her sind die Zeiten, in denen eine jubilierende Ereignisberichterstattung und die kritische Investigation etwa eines Hajo Seppelt in Dopingfragen seltsam abgekoppelt voneinander existierten. Heute gibt es kontinuierlich kritische Zugänge, zum Beispiel in der WDR-Sendung Sport Inside, die auch die inkriminierte Umfrage beauftragte. Dieser Tage wird sogar die Ereignisberichterstattung genutzt, um auf das sonstige distanziertere Programm hinzuweisen, gut zu beobachten in der ZDF-Übertragung des Champions-League-Finalspiels am Samstag. Wenn dort, wo private Anbieter die Zuschauer mit Sendehinweisen auf Boxkämpfe und American Football behelligen, für kritische Reportagen geworben wird, ist das nicht nur weniger nervig. Es entspricht auch dem so gern angemahnten Auftrag der öffentlich-rechtlichen Sender.
Davon sollte sich kein Publikum und kein Sportler in seinem Sehnen nach märchenhaften Umständen gestört fühlen, am Ende bestätigt es schließlich die gesellschaftliche Wertschätzung des Sports. Und es schafft Platz für einen Raum zwischen den Extremen. Die ebenfalls neue mehrteilige ARD-Dokumentation Wir Weltmeister über das Turnier 2014 ist ja weder das eine noch das andere, ist weder simples Nachplappern der DFB-Medienarbeit noch die Suche nach dem Haar in der Suppe. Sie macht einfach Lust auf ein kommendes Turnier, indem sie ein anderes in Erinnerung ruft. Doch gilt eben im Journalismus: Die Realität lässt sich nur als Märchen erzählen, wenn ihr gutes Ende feststeht. Im Märchen selbst gilt derweil: Wenn auf dem Weg dahin die Krisen verschwiegen statt gemeistert wurden, hat das gute Ende keine Bedeutung.
Mit dem Begriff des Märchens ist es so eine Sache. Im allgemeinen Sprachgebrauch steht er für etwas unbefleckt Schönes. Wenn etwas “wie im Märchen” ist, meint man damit nicht, dass Kinder allein in den Wald geschickt und dort von einer soziopathischen Einsiedlerin gefoltert werden oder dass Raubtiere Seniorinnen verspeisen. Das Märchen, so ist es gelernt, überschreibt seine krisenhaften Wendungen mit der Gewissheit des guten Endes – sonst wären die vielen Grausamkeiten auf dem Weg dorthin gerade für Kinder auch kaum zu ertragen.