Elternkolumne: Ich will verderben, keine Me-Time – Gesellschaft | ABC-Z

Ich habe ein Problem mit „Me-Time“. Nicht, weil ich wie Kanzleramtsminister Thorsten Frei der Auffassung bin, die Deutschen verlören vor lauter Work-Life-Balance die Arbeit aus dem Blick. Ich habe unter anderem ein Problem mit „Me-Time“, weil ich nie genug davon habe.
Das weitaus größere Problem besteht jedoch darin, dass der Begriff so elitär und instagrammig klingt, als hätte einem jemand den Feed sämtlicher fotogener „walking dads“ und „moms of four“ in den Gehörgang betoniert. Vielleicht wird er deswegen so oft halb-ironisch verwendet, wenn Frauen und Mütter (nein, es gibt im Analogen keine Männer und Väter, die Me-Time sagen) auf dem Weg in den Wellnessurlaub, zum Intervalltraining oder einer anderen Tätigkeit aus der Selfcare-Vorhölle sind, die sie langfristig gesünder, leistungsfähiger, geiler machen soll. Also exakt so, wie die Gesellschaft sie haben will, oder die Frauen sich selbst. Lässt sich nicht immer so leicht unterscheiden.
Überhaupt, braucht es ein Buzzword, eine Entschuldigung dafür, sich als Frau rauszuziehen und sein Ding zu machen, statt sich um andere zu kümmern? Und was genau geht im fortgeschrittenen Kapitalismus als gelungene Me-Time durch, als Ich-Zeit? Reicht es schon, zwei Stunden auf den Riss in der Wand zu starren, in Ruhe aufs Klo zu gehen und zu gammeln, weil die Zeit eh nicht für größere Projekte reichen wird und gleich ein Kleinkind im Salto auf einen draufspringen wird? Oder muss man vor dem westlichen Workout im örtlichen Yogastudio „Hare Krishna“ singen (ein echtes Münchner Beispiel übrigens)? Aber ich schweife ab.
Vielleicht schweife ich ab, weil ich zuletzt so viel Zeit für mich hatte wie sonst nur ein Großstadtsingle in seinen Zwanzigern, vielleicht war es etwas zu viel Zeit für mich. Da die Kita in den Ferien zwei Wochen schließt, war unsere dreijährige Tochter eine Woche lang bei ihren Großeltern, auch mein Freund war ein paar Tage weg, und so hatte ich die Wohnung ganz für mich allein. Ein Szenario an der Schwelle zum Luxus, eigentlich.
Als die erste Irritation (ich, ganz alleine, in meinem eigenen Takt, wer bin ich überhaupt?) überstanden war, las ich im Schwimmbad einen Roman, aß Lieferessen auf der Couch und schaute eine irrelevante Serie. Gerade angekommen in meinem neuen Leben als weiblicher „Big Lebowksi“ ohne größere Probleme mit der Impulskontrolle, stürzte mein Laptop ab, und ein Apple-Mitarbeiter sagte mir am Telefon, dass der Service für mein „Vintage-Gerät“ abgelaufen sei, woraufhin ich in einem Fachgeschäft von zwei Technikern psychisch betreut werden musste. Alles verrinnende time auf meinem Lebenszeitkonto, me war verzweifelt. Ich hinterließ eine Google-Bewertung mit fünf Sternen.
Am nächsten Tag wachte ich mit Schnupfen auf, in meiner Nase kribbelte es, als sei schon wieder November. Selbst schuld, wahrscheinlich hatte ich nicht ernsthaft genug Selfcare betrieben. Zeit für ein grippales Fazit also: Me-Time, dolle Sache oder trügerische Angelegenheit? Lässt sich nicht immer so leicht unterscheiden. Ich war jedenfalls froh, als meine Tochter wieder da war und die You-Time begann.
In dieser Kolumne schreiben Patrick Bauer und Friederike Zoe Grasshoff im Wechsel über ihren Alltag als Eltern. Alle bisher erschienen Folgen finden Sie hier.