Politik

Elif Shafaks Rede zur Literatur im Zeitalter der Angst | ABC-Z

Es ist eine seltsame Zeit, in der wir leben. Eine seltsame Zeit, um zu schreiben.

In einer Welt, die zutiefst polarisiert und unversöhnlich politisiert ist, zerrissen durch Ungleichheit und Kriege und die Grausamkeit, die wir einander ebenso zufügen können wie der Erde, unserer einzigen Heimat – was können Autoren in einer solchen Welt überhaupt zu erreichen hoffen? Wo ist da Platz für Geschichten und Phantasie, wenn sich Stammesdenken, Zerstörung und Ausgrenzung so viel lauter und dreister ­äußern?

Wenn ich Sie mit in die Vergangenheit nehmen darf, werden sich diejenigen von uns, die alt genug dafür sind, daran er­innern, dass in einem speziellen Augenblick der Geschichte, der gar nicht so lange her ist, ein greifbares Gefühl von Optimismus in der Luft lag. Die Berliner Mauer war gefallen. Die Sowjetunion hatte sich aufgelöst. Die Menschen sprachen vom „Triumph der freiheitlichen Demokratie“. Es herrschte die Annahme, dass sich die Geschichte von nun an geradlinig und ausschließlich vorwärts bewegen würde. (Während sich für uns Geschichtenerzähler, die wir sind, die Zeit nicht gerad­linig bewegt. Wenn Sie Geschichten schreiben, fühlen Sie, dass die Zeit genauso gut wie vorwärts auch rückwärts laufen kann, und manchmal beschreibt sie Kreise.) In den späten Neunzigern und den ersten Jahren des neuen Jahrtausends fand man die größten Optimisten auf dem Feld der Technologie. Sie sagten uns, dass sich dank der Fortschritte der Digitaltechnik Informationen überall leicht verbreiten und die Menschen sich zu gutinformierten Bürgern entwickeln würden, die gutinformierte Entscheidungen treffen, weshalb sich die Demokratie überall durchsetzen werde.

Aber Information ist nicht dasselbe wie Wissen, und Wissen ist nicht dasselbe wie Weisheit. Heute leben wir in einer Welt, in der es viel zu viel Information gibt, aber wenig Wissen und noch viel weniger Weisheit.

Wir brauchen Verlangsamung

Informationsbruchstücke regnen täglich auf uns herab. Während wir hinauf- und hinunterscrollen, mehr aus Gewohnheit als aus irgendetwas sonst, haben wir keine Zeit zu verarbeiten, was wir sehen. Keine Zeit aufzunehmen oder nachzudenken oder etwas zu fühlen. Überinformiertheit verschafft uns die Illusion von Wissen. Doch die Wahrheit ist, dass wir vergessen haben, wie man „Ich weiß es nicht“ sagt. So etwas sprechen wir nicht mehr aus. Wenn wir auf etwas keine Antwort wissen, können wir es einfach googeln, und danach werden wir ein bisschen dazu sagen können. Aber das ist kein Wissen.

Echtes Wissen braucht Verlangsamung. Wir brauchen Kulturräume, Literaturfestivals, den offenen und ehrlichen intellektuellen Austausch. Wir brauchen langsamen Journalismus. Wir brauchen Bücher.

Und dann ist da die Weisheit. Um Weisheit zu erlangen müssen wir Herz in unsere Arbeit und unsere Gespräche einbringen. Wir müssen emotionale Intelligenz aufbauen. Wir brauchen Empathie. Wir brauchen Literatur.

Damit will ich nicht behaupten, dass wir Autoren weise Menschen wären. Das sind wir sicher nicht. Was ich behaupte, ist, dass, wenn wir Geschichten schreiben, wir uns mit etwas verbinden, das größer ist als wir, älter ist als wir und allemal weiser ist als wir. Und dieses „etwas“ ist die ehrwürdige Kunst und das Handwerk des Erzählens. Das ist universal. Es gehört nicht einem Stamm, einer Gegend oder einer Religion allein. Es kann nicht in Grenzen eingesperrt werden.

Als Romanautorin bin ich brennend interessiert am Ökofeminismus, der sich darum bemüht, scheinbar getrennte Angelegenheiten miteinander zu verbinden. Zum Beispiel befinden sich sieben der zehn am meisten von Wasserknappheit geplagten Staaten im Nahen Osten und in Nordafrika. Unsere Flüsse sterben. Frauen sind überall auf der Welt Wasserträgerinnen. Wenn es keine nahegelegene Wasserquelle gibt, vergrößert sich die Strecke, die eine junge Frau gehen muss, womit sich unglücklicherweise auch die Gefahr geschlechtsspezifischer Gewalt vergrößert. Wenn wir uns also über Wasserknappheit Gedanken machen, müssen wir uns auch Gedanken machen über geschlechtsspezifische Ungleichheit. Wenn wir uns über geschlechtsspezifische Ungleichheit Gedanken machen, müssen wir uns auch Gedanken machen über Rassenunterschiede. Und so weiter.

Das literarische Denken kann kein isolationistisches sein. Bei der Kunst des Erzählens dreht sich alles um den Aufbau von Verbindungen.

Erzähler sind Gedächtnisstützen

Natürlich lieben wir Autoren Geschichten, aber wir interessieren uns auch – und müssen das tun – für das Schweigen. Unsere Herzen und Stifte bewegen sich ganz selbstverständlich in Richtung all jener, deren Geschichten ausradiert, an den Rand gedrängt und vergessen wurden, all jener, die dazu gezwungen wurden, sich als „jemand anderer“ zu empfinden.

Literatur bringt die Peripherie ins Zentrum und gibt jenen ihre Menschlichkeit zurück, die entmenschlicht worden sind. Deshalb sind Erzähler Gedächtnisstützen.

Für die Romanautorin Toni Morrison war der Kampf, die offene Feldschlacht zwischen Erinnern und Vergessen, der Antrieb für ihr Erzählen. Sie schrieb über „Geschichte in Auseinandersetzung mit Gedächtnis und Gedächtnis in Auseinandersetzung mit Gedächtnislosigkeit“.

Der größte Teil der Historie, die man uns in der Türkei lehrt, ist his-story, womit Geschichten über einige wenige Männer in einflussreiche Positionen gemeint sind – etwa Sultane. Aber wie war das Leben für Frauen im Osmanischen Reich? Wo sind die Erzählungen über Frauen? Schweigen. Wie erging es den Minderheiten – einem kurdischen Bauern, einem armenischen Silberschmied, einem jüdischen Müller, einem griechischen Seemann? Schweigen. Deshalb müssen wir als Autoren tief durch die historischen Schichten und die des Vergessens graben, um unerzählte Geschichten ans Licht zu bringen.

Wir müssen außerdem Brücken schlagen zwischen schriftlich und münd­lich geprägten Kulturen.

Im Zeitalter von Überinformation, sofortiger Bedürfnisbefriedigung, eiligem Konsum und Klimazerstörung stellt die Literatur ein Hoffnungszeichen dar – und muss das auch sein. Und sie leistet Widerstand. Nicht gewaltsamen Widerstand, sondern durch ihre Fähigkeit, uns an unsere gemeinsame Menschlichkeit zu erinnern.

In unserem Zeitalter der Angst

Die Schriftstellerin Doris Lessing hat Literatur einmal wortgewandt als „Deutung nach dem Ereignis“ beschrieben. Das leuchtet mir ein. Dinge geschehen, und wir Autoren benötigen Zeit, um sie zu verarbeiten, und dann schreiben wir im Nachhinein, mit Verspätung.

Heute sind wir jedoch in eine neue Welt eingetreten. In diesem Moment, in dem wir Umweltkatastrophen und Kriege erleben, zunehmende Polarisierung und wachsende Ungleichheiten und Buch­verbote, in dem wir unsere Unfähigkeit, aus der Geschichte zu lernen, erkennen – an dieser wichtigen Wegscheide muss die Literatur nicht nur Deutung nach dem Ereignis, sondern auch Deutung während des Ereignisses sein.

Aber wie können wir den Willen bewahren, weiter Geschichten zu schreiben in diesem Zeitalter der Angst? Wie ­können wir Büchern vertrauen und ihrer Fähigkeit, die Welt zu verändern? Es ist ja so leicht, den Willen zu verlieren. Ost, West, Nord und Süd – wohin wir auch ­blicken, wird man ängstliche Menschen sehen. Junge und alte. jeder wird erfasst von existenzieller Angst. Mit dem ein­zigen Unterschied, dass es einigen Menschen besser gelingt, ihre Angst zu verbergen.

Es herrschen Furcht, Zorn, Enttäuschung, Ressentiment . . . in unserer Zeit leiten solche Gefühle die Politik an – und leiten sie in die Irre. Sie alle stellen Herausforderungen dar, aber jenes Gefühl, das mir die größten Sorgen macht, ist die Abwesenheit von Gefühlen. Die Gefühllosigkeit.

Ich glaube, dass diese Welt ein bedrohlicherer und brüchigerer Lebensort sein wird, falls wir ins Zeitalter der Apathie eintreten. Falls der Moment kommt, in dem wir aufhören, uns nicht mehr darum zu kümmern, nicht mehr darüber zu schreiben und zu sprechen, was heute in Gaza passiert, in der Ukraine, im Sudan . . . Falls der Moment kommt, in dem wir desensibilisiert, atomisiert, gleich­gültig und gefühllos werden. Genau davor hat uns die Philo­sophin Hannah Arendt gewarnt.

Literatur ist das Gegengift zur Gefühllosigkeit. Autoren können keine Kriege beenden. Wir können den Hass nicht verschwinden lassen. Aber wir können die Flamme des Friedens, der Gemeinschaftlichkeit und des Mitgefühls weiter lodern lassen. Die Kraft der Literatur liegt darin, dass sie uns daran erinnert, zu was wir fähig sind: nicht nur zu Zerstörung und Feindschaft, sondern auch zu Schönheit, Solidarität, Schwesterlichkeit und Liebe.

Elif Shafak, geboren 1971, ist Schriftstellerin. Die türkisch-britische Staatsbürgerin hielt ­diese Rede am Dienstag auf der Eröffnungskonferenz der Frankfurter Buchmesse. Kürzlich erschien ihr Roman „Am Himmel die Flüsse“ (Hanser).

Aus dem Englischen von Andreas Platthaus.

Schaltfläche "Zurück zum Anfang"