Politik

Elias Holzknecht Fotobuch Micheldorf | ABC-Z

Es beginnt mit einem vom Zufall motivierten fotografischen Roadtrip durchs idyllische Oberösterreich und stellt dabei eine beunruhigende Geste voran: die Vervielfachung eines Ortsnamens. Das Fotobuch Micheldorf Micheldorf Micheldorf Micheldorf lädt dazu ein, tiefgreifend und kritisch über die Bedeutung von Ort, Repräsentation und die menschliche Verfasstheit in einer Welt proliferierender Bilder nachzudenken. Es ist ein Werk, das konventionelle Modi der fotografischen Repräsentation herausfordert. Gleichzeitig setzt es sich mit dem Gewicht der Verantwortung auseinander: Was bedeutet es, zu dokumentieren, zu erinnern und sich zugehörig zu fühlen? Man liest es unweigerlich im Lichte der Vergänglichkeit, wenn es uns performativ mit den Fragen beschäftigt: Was ist – und was soll bleiben?

Alles schaut so gut aus,
sodass man es fast glaubt.
Elias Holzknecht
Wenn es aber Wirklichkeitssinn gibt,
und niemand wird bezweifeln,
dass er seine Daseinsberechtigung hat,
dann muss es auch etwas geben,
das man Möglichkeitssinn nennen kann. [...]

So ließe sich der Möglichkeitssinn
geradezu als die Fähigkeit definieren,
alles, was ebenso gut sein könnte, zu denken
und das, was ist,
nicht wichtiger zu nehmen als das, was nicht ist.
Wenn es aber Wirklichkeitssinn gibt,
und niemand wird bezweifeln,
dass er seine Daseinsberechtigung hat,
dann muss es auch etwas geben,
das man Möglichkeitssinn nennen kann. […]

So ließe sich der Möglichkeitssinn
geradezu als die Fähigkeit definieren,
alles, was ebenso gut sein könnte, zu denken
und das, was ist,
nicht wichtiger zu nehmen als das, was nicht ist.
Elias Holzknecht
Im Sommer braucht man nicht zu heizen,
und im Winter gibt es keine Mücken.
Im Sommer braucht man nicht zu heizen,
und im Winter gibt es keine Mücken.
Elias Holzknecht

Das Fotobuch wird durch seine konzeptionelle Architektur zum Vexierbild für eine Idee des Ortes. Holzknecht fotografierte nicht nur einen, sondern mehrere österreichische Orte namens Micheldorf und produzierte gemeinsam mit dem niederländischen Eriskay-Verlag gleich mehrere Versionen des Buches. Es operiert dabei mit verschiedenen medialen Sprachen: Neben ruhigen, klassischen Großformatporträts stehen farbige, durch Holzknechts Windschutzscheibe fotografierte 35-mm-Schnappschüsse; filigrane Mindmaps von Anwohnern und Anwohnerinnen neben dokumentierten Textfragmenten lebender und bereits verstorbener Autorinnen und Autoren – ein Puzzle, das keinen linearen Weg anbietet, keine klare Leserichtung. Die Vervielfachung ist mehr als ein Hinweis auf einen kuriosen Zufall; sie wird zum performativen Akt. Betrachtende werden unmittelbar mit der Unzulänglichkeit konfrontiert, eine komplexe Realität durch einen einzelnen Namen oder ein einzelnes Buch zu fassen. Die Erwartung eines klar umrissenen „Micheldorf“ zerfällt von der ersten Seite an. Die Sprache selbst, das Benennen, erscheint als ungenügend, um die Fülle eines Ortes einzufangen.

Das Vertraute wird nicht unbedingt verstanden.
Das Vertraute wird nicht unbedingt verstanden.Elias Holzknecht
Der Bereich der heutigen Gemeinde
Micheldorf wurde durch den sogenannten
Murgletscher, der vor 20.000 Jahren seine
größte Entfaltung hatte, geformt.
Der Bereich der heutigen Gemeinde
Micheldorf wurde durch den sogenannten
Murgletscher, der vor 20.000 Jahren seine
größte Entfaltung hatte, geformt.
Elias Holzknecht
Und es ist immer falsch,
die Erscheinungen in einem Land
mit dem Charakter seiner Bewohner und Bewohnerinnen zu erklären.
Und es ist immer falsch,
die Erscheinungen in einem Land
mit dem Charakter seiner Bewohner und Bewohnerinnen zu erklären.
Elias Holzknecht
Micheldorf hat 5905, 998, 144 und 160 Einwohnerinnen und Einwohner gleichzeitig.
Micheldorf hat 5905, 998, 144 und 160 Einwohnerinnen und Einwohner gleichzeitig.Elias Holzknecht

Also wie weiter vorgehen – was will uns Holzknecht mit dieser Vervielfachung und der daraus resultierenden scheinbaren Unfassbarkeit des Ortes zeigen? Diese Unfassbarkeit ließe sich als Schwäche der Sprache deuten, die Fülle eines Motivs und das darin ausgedrückte Leben nicht gänzlich erfassen zu können. Die Möglichkeit der Vieldeutigkeit mag in unserer hyperindividualisierten Gesellschaft zusätzlich bedrohlich wirken, könnte sie doch das Finden gemeinsamer Werte und das Fällen politischer Entscheidungen noch weiter erschweren. In mehrerlei Hinsicht tritt Elias Holzknecht hier in die Fußstapfen eines kritischen Dokumentarismus, wie Allan Sekula und Martha Rosler ihn belebten.

Fotografie ist bei ihnen nie bloß ästhetisches Medium, sondern immer auch gesellschaftliche Praxis. Sekula etwa zeigt, dass selbst die scheinbar harmlosesten Dorfporträts Machtverhältnisse mit einschreiben: Arbeit, Zugehörigkeit, Geschichte. Und Rosler macht deutlich, dass jede dokumentarische Geste eine politische ist – abhängig davon, wie mit der Würde Einzelner umgegangen wird, welche gesellschaftlichen Ausschlüsse und Strukturen im Bild reproduziert werden. Holzknechts Werk spricht leise von Häusern, Landstrichen und Gesichtern, die uns vertraut erscheinen, aber in einer Sprache existieren, die wir erst entschlüsseln müssen. Diese Haltung hebt den Blick vom einzelnen Bild zum sozialen Geflecht. Wir sehen nicht nur ruhende Felder und einzelne Personen, sondern auch die Schatten einer Gesellschaft. Wenn der Fotograf von der „Schönheit im Banalen“ spricht, fragt er zugleich, wem dieses Banale gehört – und welche Kräfte es ordnen. Sekulas These, dass Fotografie ein Archiv sozialer Kämpfe sei, klingt hier leise mit, ebenso Roslers Beharren darauf, dass Bilder nie neutral sind. In diesem Sinn wird Micheldorf zum Mikrokosmos: klein genug, um ins Detail zu blicken, groß genug, um die Konturen des Ganzen zu erahnen.

Das Alphabet hat keine Zahlen.
Jeder Mensch hat einen Vater
und ein Begräbnis.
Das Alphabet hat keine Zahlen.
Jeder Mensch hat einen Vater
und ein Begräbnis.
Elias Holzknecht
Es ist passiert,
sagte man dort,
wenn andere Leute anderswo glaubten,
es sei Wunder was geschehen.
Es ist passiert,
sagte man dort,
wenn andere Leute anderswo glaubten,
es sei Wunder was geschehen.
Elias Holzknecht
Pensionist,
Schüler,
Elektriker-Lehrling,
Arbeiter,
Bauhof-Arbeiter,
Metzger,
Holzer,
Gemeinde-Angestellte,
Landwirt,
Arbeitslose,
Stahlgießer,
Suchende,
Wasseraufbereiter,
Fischzüchter,
Imbiss-Besitzer
Pensionist,
Schüler,
Elektriker-Lehrling,
Arbeiter,
Bauhof-Arbeiter,
Metzger,
Holzer,
Gemeinde-Angestellte,
Landwirt,
Arbeitslose,
Stahlgießer,
Suchende,
Wasseraufbereiter,
Fischzüchter,
Imbiss-Besitzer
Elias Holzknecht

Der Versuch, sich aus der präsentierten Vielfalt einen eindeutigen Reim auf ein Micheldorf zu machen, könnte vorschnell als Einladung missverstanden werden, sich in eine rein subjektive Deutung zurückzuziehen – eine potentielle, nihilistische Stolperfalle: Die Einladung zur individuellen Deutung könnte als Rückzugsmöglichkeit aus der gemeinsamen Welt verstanden werden – eine Haltung, die Vielfalt feiert, ohne sich zu kümmern. Holzknecht zeigt jedoch, dass ein Ort nicht deshalb bedeutungsvoll ist, weil er eindeutig ist, sondern weil er sich nicht festlegen lässt. Gerade diese ständige Offenheit verlangt nach Fürsorge. Was nicht mehr ausgehandelt wird, verkümmert – wie eine Nachbarschaft, die sich nicht um sich selbst kümmert und schließlich nur noch als statistische Kategorie existiert. Dinge behalten ihre Bedeutung, bleiben lebendig, wenn wir ihnen mit Aufmerksamkeit und Neugier begegnen und uns der Möglichkeit öffnen, uns von unserer Welt überraschen zu lassen. Ein Fotobuch gibt demnach keinen Blueprint mit; keine festgeschriebene Handlungsanleitung für das eigene Zuhause, aber vielleicht eine Idee davon, von welchen Faktoren die Lebenswürdigkeit eines Ortes abhängt.

Der Inhalt beruht auf eigener Anschauung des
Herausgebers und seiner Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sowie auf sorgfältig eingezogenen Erkundungen
unter Berücksichtigung der einschlägigen Literatur.
Buchstäbliche Genauigkeit wird niemand von
einem Buche, das über zahlreiche, stetem
Wechsel unterworfene Dinge Auskunft geben
muss, verlangen.
Der Inhalt beruht auf eigener Anschauung des
Herausgebers und seiner Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sowie auf sorgfältig eingezogenen Erkundungen
unter Berücksichtigung der einschlägigen Literatur.
Buchstäbliche Genauigkeit wird niemand von
einem Buche, das über zahlreiche, stetem
Wechsel unterworfene Dinge Auskunft geben
muss, verlangen.
Elias Holzknecht
Wo ist Gott?
Gott ist überall, in den Pflanzen,
in den Blättern, ja sogar im Staub.
So ein Blödsinn, Gott ist im Himmel.
Wo ist Gott?
Gott ist überall, in den Pflanzen,
in den Blättern, ja sogar im Staub.
So ein Blödsinn, Gott ist im Himmel.
Elias Holzknecht

Die Vielfalt von Perspektiven ist kein Zeichen von Beliebigkeit, sondern Ausdruck eines fortlaufenden Aushandlungsprozesses, der ernst genommen werden muss. Jeder Versuch, Bedeutung abschließend zu fixieren, ist zugleich ein Moment des Aufhörens – ein Ende des Dialogs, der notwendig ist, damit Orte und Identitäten mehr bleiben, mehr als bloße Koordinaten und Wirtschaftsräume. Die Verantwortung liegt darin, Bedeutungen offenzuhalten – nicht weil nichts gilt, sondern weil alles in ständiger Bewegung ist und dabei auch unsere Werte drohen durch ignorante Kräfte zu verkümmern. „Micheldorf Micheldorf Micheldorf Micheldorf“ zeigt, dass dokumentarische Fotografie nicht nur abbilden kann, sondern auch das Potential hat, kollektive Aufmerksamkeit neu zu ordnen. In einer Zeit, in der vieles vereinfacht, sortiert und geschlossen wird, bleibt dieses Buch offen. Und gerade in dieser Offenheit liegt sein Wert.

Zum Autor: Felix Burchardt studierte drei Jahre Philosophie und Volkswirtschaft in Potsdam, bevor er sich dem Studium der Dokumentarfotografie in Hannover und Dhaka widmete. Als Gründungsmitglied konzipierte und verwirklichte er von 2016 bis 2020 Ausstellungen, Fotoscreenings und Diskussionsrunden rund um Fotografie im Goethe Exil in Hannover. Er war 2020 bis 2024 Teil der Bildredaktion von ZEIT ONLINE und ist Mitglied der fotobus society und des Kollektivs What’s Left of Photography.

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