Literaturfest-Diskussion im Münchner Muffatwerk: Protest als Sprache der Liebe – München | ABC-Z

Ein Restaurant, eine Mutter, ein erwachsenes Kind. Und die Stille, die sich breit macht, während die Mutter Selah immer wieder mit ihrem Unmut konfrontiert. Kleidungsstil, Auftreten, Lebensentwurf: Sie passen nicht in das enge Raster, das die Mutter für Selahs Leben entworfen hat. Sie habe ein Mädchen geboren und einen Jungen bekommen. Warum sei Selah nicht schon längst verheiratet? Die logische Schlussfolgerung kommt ihr nicht in den Sinn.
„Sieben Sekunden Luft“ von Luca Mael Milsch ist eines der drei Werke, die im Muffatwerk unter dem Motto „Selbst und Bestimmt“ vorgestellt werden. „Liebe ist zutiefst politisch“, sagt Daniel Schreiber, Berliner Autor und Kurator des diesjährigen Literaturfests. Queere Personen müssten sich einer Welle des Hasses entgegenstellen. Umso wichtiger sei es, ihre „Sprache der Liebe“ zu thematisieren.
Diese Sprache ist geprägt durch Pausen und Brüche. Sie lässt Leerstellen und sucht nach Worten. Der Umgang mit ihr will gelernt sein. Die Autorinnen und Autoren drücken dadurch aus, dass sich ihre Figuren erst neu definieren müssen. So findet Delia, eine nonbinäre Person, in Hengameh Yaghoobifarahs Roman „Schwindel“ durch die Liebe zu Ava einen Ort der Gender-Euphorie. „Sprache finden kann auch Welten finden bedeuten“, sagt Selma Kay Matter über das autofiktionale Debüt „Muskeln aus Plastik“.
Diese Welten können verwirrend sein. Matters literarisches Ich Kay verliert sich in einem Ikea-Möbelhaus. Ein Gebäude, in dem alle in eine Richtung gehen, das niemand verlassen kann und in dem die Mitarbeiter auf gruselige Weise genau zu wissen scheinen, wer Kay ist. Kämpfe der Realität, erzählt in einer surrealen Welt.
Die Autorinnen und Autoren spielen mit Ausdrucksformen, brechen aus literarischen Konventionen aus. „Queere Personen brauchen viel Vorstellungskraft, um sich außerhalb des Systems neu zu erfinden“, erklärt Milsch. Schon bei der Entstehung schreibe man gegen Widerstand an, müsse sich Raum nehmen, so Matter.
Die Figuren streben nach der Freiheit, selbstbestimmt leben zu können. Sie begeben sich auf eine riskante Reise der Selbstentdeckung, auch wenn eine Figur wie Selah erst „spät begreift, dass sie einen Körper hat, der etwas bedeutet, für andere, für sich selbst“.
Über die Kraft des eigenen, verletzlichen Körpers als Mittel des Protests sprach später am Abend auch Samira Akbarian, Rechtswissenschaftlerin und Autorin des Buches „Recht brechen“. Gemeinsam mit der Publizistin Samira El Ouassil und dem Autor Friedemann Karig diskutierte sie über zivilen Ungehorsam.
Zündstoff lieferte gleich zu Beginn die Anklage der Generalstaatsanwaltschaft München gegen fünf Klimakativisten der „Letzten Generation“. Laut Akbarian eine Fehlinterpretation des Strafgesetzbuchs: „Paragraf 129 ist nicht für politische Aktivisten gedacht, die sich auf der Straße festkleben. Er ist für Mafiabosse gedacht.“ Denn eine Sitzblockade sei zwar disruptiv, aber nicht gewaltsam. „Es ist die Aufgabe von Protest zu stören.“
Zivilen Ungehorsam interpretiert sie als eine Sprache der Liebe. Er drücke Verfassungstreue aus – auch wenn er scheinbar gegen einzelne Gesetze verstößt. Es ist ein Paradox: „Demokratie hinterfragen, ohne Demokratie infrage zu stellen.“ Akbarians Interpretation stößt nicht immer auf Gegenliebe. Die Wissenschaft sei stark vom Ordnungsgedanken geprägt, wonach niemand sich über die Regeln hinwegsetzen dürfe.
Dabei spreche ein solch verletzlicher Protest für sich. Wer sich im Sommerkleid Polizisten in voller Montur entgegenstellt, tue dies aus gutem Grund. Warum hätten sich etwa Rechtsextreme noch nicht an der Straße festgeklebt? „Rechte können keinen friedlichen Protest leisten, weil ihre Ziele nicht friedlich sind“, so Friedemann Karig.
Richtig eingesetzt sei ziviler Ungehorsam das Kontrastmittel, das eine funktionierende Demokratie kennzeichnet. Sein Wert zeige sich oft im Nachhinein, wie im Falle des amerikanischen Bürgerrechtlers Martin Luther King, der erst posthum zur Ikone des friedlichen Widerstands wurde.
Akbarian selbst sagt, sie als Autorin müsse sich nicht auf der Straße festkleben, um Gehör zu finden. Sie fordert mehr Einsatz für die Demokratie, sei es durch Protest – oder die Kraft des Wortes.