Elektro-Tretroller: Wie rücksichtslose E-Scooter-Fahrer von einer Lücke im Verkehrsrecht profitieren | ABC-Z

Die Zahl der Toten bei Unfällen mit E-Rollern steigt. Bemerkenswert ist: Bei der Unfallhäufigkeit spielt auch eine Rolle, ob der E-Scooter dem Fahrer gehört – oder ob er geliehen ist. Im Gegensatz zu fast allen anderen Kraftfahrzeugen sind E-Scooter zudem von einer Grundregel der Versicherungen ausgenommen.
Im Grundgesetz steckt viel Menschenkenntnis. So ist dessen Satz „Eigentum verpflichtet“ (Artikel 14, Absatz 2) zwar vor allem als berechtigte Forderung zu verstehen, erweist sich aber bei E-Scootern auch als zutreffende Beschreibung einer Grundtatsache: Eigentum nimmt Menschen in die Pflicht. Auch in die Pflicht zu verkehrsgerechtem Verhalten.
Das lässt sich an Zahlen ablesen, die kürzlich der Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft (GDV) veröffentlichte. Demnach befanden sich 2023 von den rund 990.000 in Deutschland versicherten E-Scootern rund 79 Prozent im Privatbesitz, hatten aber an den erfassten Unfällen dieses Fahrzeugtyps einen deutlich kleineren Anteil: 61 Prozent. Hingegen belief sich bei E-Scootern in Leihflotten, die nur 21 Prozent des Gesamtbestands ausmachten, der Anteil an den Unfällen auf 39 Prozent.
Dass somit statistisch „mit privaten Scootern deutlich weniger Unfälle verursacht werden als mit Leih-Scootern“, wie es in der Auswertung des GDV heißt, lässt sich nach Ansicht des Verkehrsrechtlers Rainer Heß sehr leicht erklären. Nämlich damit, „dass Besitzer jener Fahrzeuge schon aus materiellem Eigeninteresse sowohl beim Fahren als auch beim Abstellen der Scooter mehr Vorsicht walten lassen als jene, die sie nur für kurze Zeit mieten“, wie der Fachanwalt für Verkehrs- und Versicherungsrecht WELT sagte.
Daraus lässt sich zumindest mittelfristig Hoffnung schöpfen. Denn die Zahl der Privat-Elektroroller, die offenbar vernünftiger genutzt werden, ist laut GDV 2023 um 37 Prozent gestiegen, aber die der Leih-Scooter um nur neun Prozent. Mithin scheinen sich im nach wie vor wachsenden Segment dieser Elektrokleinstfahrzeuge die Besitzverhältnisse zu verschieben. Das dürfte zum einen daran liegen, dass die individuelle Kaufneigung steigt, seit sich zumindest Städter an den Anblick dieser Fahrzeuge gewöhnt haben.
Zum andern stoßen Betreiber der Leihflotten nach einer Phase der Markt-Flutung an Wachstumsgrenzen und müssen Kosten reduzieren. Zudem sind sie mit kommunalen Gegenmaßnahmen konfrontiert. Viele Städte haben die Obergrenze der auf ihrem Gebiet zulässigen Leih-Scooter reduziert und versuchen, das verkehrswidrige Abstellen konsequenter zu ahnden. Und im April 2024 hat Gelsenkirchen Leih-Scooter im Stadtgebiet ganz verboten.
Dennoch bleiben die Zahlen der Unfälle und des verkehrswidrigen Verhaltens vieler Nutzer ein großes Problem. So ist bei ihnen der Anteil derer, die rote Ampeln missachten, mit knapp 15 Prozent deutlich höher als bei Fußgängern und Radfahrern (jeweils rund acht Prozent). Das ergab jüngst eine Erhebung des ADAC in fünf deutschen Großstädten.
Laut Statistischem Bundesamt stieg 2023 die Zahl der E-Scooter-Unfälle mit Personenschaden gegenüber dem Vorjahr um 14 Prozent auf 9425. Die Zahl der Todesopfer verdoppelte sich im gleichen Zeitraum von elf auf 22. Die häufigsten Unfallursachen waren demnach eine falsche Fahrbahnnutzung – etwa verbotenes Fahren auf Gehwegen – sowie Trunkenheit.
Dass die Unfallträchtigkeit bei geliehenen Scootern besonders hoch ist, interpretiert Anwalt Heß so: „Gerade bei ihnen scheint es oft am Bewusstsein dafür zu fehlen, dass von dem Fahrzeug per se eine Gefahr nicht nur für die Benutzer, sondern auch für andere Verkehrsteilnehmer ausgeht.“
Wenn aber von einem Kraftfahrzeug per se eine Gefahr ausgeht, dann schlägt sich das auch im Versicherungsrecht nieder, erläutert Heß, der als Honorarprofessor an der Universität Bielefeld lehrt: „Wegen der allgemeinen Gefahr durch Kraftfahrzeuge gibt es im Straßenverkehrsrecht schon seit vielen Jahrzehnten für Kfz neben der Verschuldenshaftung in Fällen persönlichen Fehlverhaltens auch die allgemeine Gefährdungshaftung.“
Diese ist bei Kfz in deren Pflichtversicherung enthalten, und mit ihr, so Heß, „besteht eine Schadenersatzpflicht auch dann, wenn kein direktes Fehlverhalten vorliegt“. Allein schon beim Betrieb eines Kfz greife die Gefährdungshaftung auch ohne Verschulden. Aber: Hiervon sind bisher E-Scooter – obwohl sie rechtlich Kfz sind – ausgenommen.
Gefährdung durch E-Scooter „erheblich gestiegen“
Denn gemäß Straßenverkehrsordnung gilt bei denjenigen Kfz, die wie E-Scooter nicht mehr als 20 Stundenkilometer fahren können, keine Haftung aufgrund jener allgemeinen Gefährdung. Das hat laut Heß historische Gründe: „Zum Zeitpunkt der Einführung der Gefährdungshaftung 1909 war der Straßenverkehr noch von Pferdefuhrwerken bestimmt und auch Kfz fuhren nicht erheblich schneller.“
Seitdem aber habe sich das Verkehrsgeschehen dramatisch verändert. „Die Gefährdung ist durch die Anzahl der Fahrzeuge und durch die gefahrenen Geschwindigkeiten erheblich gestiegen“, sagt Heß. „Auch von langsam fahrenden Fahrzeugen, wie jetzt auch den E-Scootern, geht bei den heutigen Verkehrsverhältnissen eine hohe Gefahr aus. Deshalb plädiert die große Mehrheit der Verkehrsjuristen dafür, auch sie der Gefährdungshaftung zu unterwerfen.“
Gefordert wurde dies 2022 auch von dem alljährlich in Goslar tagenden Verkehrsgerichtstag. Doch die beiden zuständigen Bundesministerien – Justiz unter Marco Buschmann (FDP), Verkehr unter Volker Wissing (damals FDP, heute parteilos) – setzten die Empfehlung nicht um.
Heß aber beharrt auf ihr: „Die Gefährdungshaftung würde bei E-Scootern konkret bedeuten, dass etwa Fußgänger, die über ein falsch abgestelltes Fahrzeug stolpern und sich verletzen, gegenüber dem Halter und der Versicherung des Fahrzeugs ihren Schaden auch dann geltend machen können, wenn dem letzten Benutzer kein Fehlverhalten beim Abstellen nachzuweisen ist. Daher würde die Gefährdungshaftung für E-Scooter eine Lücke im Opferschutz schließen.“
Auch bei Unfällen während der Fahrt würde sich etwas ändern. Denn dann wären „die E-Scooter-Nutzer, anders als derzeit bei mangelndem Fehlverhaltensnachweis, nicht mehr von Schadenersatzansprüchen frei“, sagt Heß. Vielmehr müssten sie – abgedeckt durch ihre Versicherung – aufgrund der Gefährdungshaftung dem Geschädigten zumindest einen Teil des Schadens erstatten. „Dies ist bei Unfällen zwischen zwei Pkw in solchen Fällen selbstverständlich.“
Die Verleihfirmen lehnen eine Gefährdungshaftung für E-Scooter ab. Jedenfalls so lange, wie jenes Prinzip nicht auch für ähnliche Fahrzeuge wie Elektro-Fahrräder gelte. Zudem verweisen die Firmen auf eigene Bemühungen um mehr Sicherheit.
Die Firma Bolt etwa schreibt auf ihrer Website, dass sie mit der für den Leihvorgang nötigen App das vorschriftsgemäße Abstellen kontrollieren könne und nachts Reaktionstests durchführe. Mit denen werde vor der Freigabe des Scooters überprüft, ob ein Nutzer alkoholisiert sei. Zudem erkenne eine Software im Scooter, wenn dieser trotz Verbot von zwei Personen bestiegen werde.
Heß hält das für „zwar begrüßenswert“, aber das ändere nichts an der Haftungs- und Versicherungslage. Denn solche Sicherheitsvorkehrungen seien Maßnahmen im Rahmen der Verkehrssicherungspflicht, der alle Kfz-Hersteller und Mietwagenfirmen unterliegen würden. „Natürlich“, sagt Heß, „muss die Benutzung von Fahrzeugen und damit auch von E-Scootern so sicher wie möglich gemacht werden“. Aber die Gefährdungshaftung tangiere das nicht. Tatsächlich unterliegen ihr etwa Pkw auch bei noch so großen Sicherheitsvorkehrungen.
Dass eine Aufnahme der Gefährdungshaftung in die Pflichtversicherung der E-Scooter finanzielle Folgen hätte, ist Heß bewusst, hält er aber für geboten: „Wenn ein höheres Regulierungsvolumen der Versicherer sich in höheren Versicherungskosten bei den Leihfirmen niederschlägt und damit dann auch die Benutzungsgebühren steigen würden, könnte dies vielleicht bei Nutzern zu einem achtsameren Umgang mit diesen Fahrzeugen führen“, sagt Heß. Auch dies spreche, neben dem verbesserten Opferschutz im Schadensfall, für eine Neuregelung.
Politikredakteur Matthias Kamann schreibt für WELT seit vielen Jahren über Verkehrsthemen, zurzeit etwa über die Krise der Deutschen Bahn.