EKHN-Kirchenpräsident Volker Jung zieht zum Abschied Bilanz | ABC-Z
In den vergangenen Wochen ist Volker Jung viel unterwegs gewesen. Als Kirchenpräsident gehörte er zahlreichen Gremien an, die ihn nun verabschieden wollten. 16 Jahre lang stand er der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau (EKHN) vor, am 31. Dezember endet seine zweite und letzte Amtszeit. Doch die letzten Tage als Kirchenpräsident haben für Jung nicht nur freundliche Worte und Abschiedsgeschenke bereitgehalten.
Der „antikoloniale Weihnachtsmarkt“ der Darmstädter Michaelsgemeinde, der wegen der dort gezeigten israelfeindlichen Symbole Empörung ausgelöst hat, veranlasste ihn zu einem ungewöhnlichen Schritt: Dem Pfarrer wurde die Amtsausübung untersagt. Dass die Kirchenleitung gegen einen Kirchenvorstand Strafanzeige wegen Volksverhetzung erstattet, war für Jung eine in 16 Jahren nicht gekannte Erfahrung.
Die Frage, wie politisch die Kirche sein darf oder gar sein muss, hat den 64 Jahre alten Theologen immer wieder beschäftigt. „Auch als Kontrolle“, sagt Jung im Gespräch mit der F.A.Z. Politische Äußerungen entstünden aus der Glaubensperspektive heraus und auf Grundlage der Menschenwürde. „Diese Perspektive in die Diskussion einzuspielen habe ich immer als Herausforderung und meine Aufgabe gesehen.“
Mit vielen Krisen konfrontiert
Mit ihrem Engagement für Flüchtlinge und dem Einsatz für das Asylrecht hat die evangelische Kirche auch bei manchen Mitgliedern Kritik und Widerspruch hervorgerufen. Doch für Jung ist die Haltung nur konsequent: „Der Blick auf Menschen in der Fremde, die auf der Flucht sind, ist tief in unserer biblischen Tradition verwurzelt.“ Die Kirche reagiere damit auf eine sich verändernde Welt. „Migration muss gestaltet werden und darf nicht nur als Krise verhandelt werden.“
Verändert hat sich auch die Haltung zu Sexualität und Familie. Nach der Segnung ermöglichte die evangelische Kirche die Eheschließung gleichgeschlechtiger Paare, die seit 2019 ganz offiziell Trauung heißt. Drei Jahre später verabschiedete die Synode der EKHN, also das Kirchenparlament, mit großer Mehrheit ein Schuldbekenntnis gegenüber queeren Menschen. Darin bittet sie Lesben, Schwule, Trans- und Intersexuelle um Verzeihung für erlittenes Leid und Zurücksetzung.
Natürlich findet sich darin nicht jedes Kirchenmitglied wieder. „Das waren damals harte Debatten“, sagt Jung über das Zustandekommen solcher Beschlüsse. Aber zur Transsexualität etwa richteten junge Leute aus der Jugendarbeit ganz konkret die Frage an die Kirchenleitung: „Gehören wir dazu oder gehören wir nicht dazu?“
Von Anfang an war der Kirchenpräsident mit äußeren Krisen konfrontiert, die bei vielen Menschen zu einem andauernden Gefühl der Verunsicherung geführt haben. Kurz nach seinem Amtsantritt 2009 erlebte er in der Finanzkrise, wie sogar gestandene Bankmanager sagten, so etwas hätten sie sich nie vorstellen können. Zwei Jahre später schockierten die Bilder des Tsunamis in Japan und die dadurch ausgelösten Kernschmelzen im Kernkraftwerk Fukushima die Menschen auch hierzulande.
Volker Jung zu Corona: Kirche war nicht laut genug
Die nach seiner Einschätzung größte Herausforderung seiner Amtszeit kam jedoch 2020 mit der Corona-Pandemie. Natürlich hatte auch Jung sich nicht vorstellen können, dass einmal Weihnachtsgottesdienste gezwungenermaßen im Freien gefeiert würden. Seit 2015 war er Aufsichtsratsvorsitzender des Gemeinschaftswerks der evangelischen Publizistik und somit als „Medienbischof“ unter anderem für die Fernsehgottesdienste zuständig. Am ersten Sonntag nach dem Lockdown predigte Jung in einem Gottesdienst ohne Gemeinde, den das ZDF aus Ingelheim übertrug. „Das war schon eine sehr besondere Erfahrung.“
Über die verordneten Einschränkungen und den Umgang der Kirchen damit ist viel diskutiert worden. Jung erinnert an die damalige Lage. Es habe bedrückende Hochrechnungen gegeben, wie viele Menschen sterben würden. Daher steht er auch aus der Rückschau dazu: „Die Linie, den Schutz von Menschenleben an die erste Stelle zu setzen und deshalb darauf zu verzichten, Gottesdienste in Präsenz zu feiern, halte ich nach wie vor für richtig.“
Und was ist mit den Alten und Kranken, die nicht besucht werden konnten? Man habe den Pfarrern das Signal gegeben, sich zu melden, wenn sie irgendwo nicht hineingekommen seien. „Wir haben gesagt: Der Zugang zu Sterbenden darf nicht verwehrt werden“, so Jung. Dennoch gesteht er zu, dass die Kirche manchmal hätte lauter sein können. Eine kritische Gesamtbetrachtung der Corona-Pandemie hielte er für gut. „Aber die kann eine Kirche allein nicht leisten.“
Krisen erfassten auch die Kirche selbst. Gut ein Jahr nach Jungs Amtsantritt wurden die Missbrauchsfälle am Canisius-Kolleg in Berlin und an der Odenwaldschule bekannt. In der Zuständigkeit der EKHN gerieten 2010 fünf Personen in den Verdacht, sexuellen Missbrauch verübt zu haben. Inzwischen hat die Kirche 96 Meldungen seit 1945 erfasst. Dass ein Pfarrer immer noch, wie 2010, einen an ihn herangetragenen Vorwurf gegen einen Kollegen einfach für unvorstellbar und damit für nicht glaubhaft halten könnte, will Jung trotz aller Präventionsarbeit nicht völlig ausschließen.
Seit 2009 mehr als 400.000 Mitglieder verloren
„Es gibt in sozialen Systemen immer Abwehrmechanismen. Aber gerade für Hinweise auf sexuelle Gewalt zu sensibilisieren und die Aufmerksamkeit zu erhöhen, daran arbeiten wir mit unseren Programmen zur Prävention.“ Der scheidende Kirchenpräsident betrachtet es durchaus als Versäumnis von evangelischer Seite, nicht früher nach den systemischen Ursachen gefragt zu haben.
Das Thema zu einer Sache der katholischen Kirche mit ihrem Zölibat und männlichen Machtstrukturen zu erklären, daran habe er sich schon damals nicht beteiligt. „Ich habe immer gewarnt: Wir kennen unsere Risiken an dieser Stelle nicht.“ Das habe sich mit der Forum-Studie zum Missbrauch in der evangelischen Kirche bestätigt. Heute sei ihm die Fachstelle gegen sexualisierte Gewalt persönlich zugeordnet. Wenn Fälle auftauchten, könne man sofort agieren und Gemeinden und betroffene Personen begleiten.
Anders als bei der katholischen Kirche, wo die Skandale eine größere Rolle spielen, haben die Austritte bei der evangelischen Kirche eher mit einer langsamen Entfremdung zu tun, wie die Mitgliedschaftsuntersuchung gezeigt hat. Im Vergleich zu Jungs Amtsantritt Anfang 2009 hat die EKHN mehr als 400.000 Mitglieder verloren, heute sind es noch 1,3 Millionen.
„Der Glaube wird in der Familie nicht mehr selbstverständlich weitergegeben“, sagt der Kirchenpräsident. Die Vertrauenskrise durch die Gewalterfahrungen in der Kirche habe die Entwicklung beschleunigt. „Eine unserer Hauptfragen muss sein: Wie kann man in einer Gesellschaft die Frage nach Gott wachhalten?“
Der Mitgliederschwund hat Folgen für die Einnahmen. Mit dem Prozess „ekhn2030“ will die Landeskirche bis 2030 in ihrem Haushalt 140 Millionen Euro einsparen. Die Gemeinden müssen sich an größere Strukturen gewöhnen und Nachbarschaftsräume bilden. Wirkt das nicht der Gemeinschaft entgegen, die man in der Kirche neben seelischem Halt sucht? Die kleine geschlossene Dorfgemeinschaft finde man ja sonst auch nicht mehr, so Jung. Und für manche sei sie sogar eher abschreckend.
Die Kirche müsse auf die unterschiedlichen Bedürfnisse in der Stadt und auf dem Land eingehen. Mancher finde seine Anregungen lieber bei Veranstaltungen und Vorträgen. Als Beispiel sagt er: „Es braucht in Frankfurt eine Stadtakademie.“ Auch mit der Neuorganisation solle die Kirche am Ort in Gesichtern erkennbar bleiben, und zwar in Teams mit unterschiedlichen Professionen wie Pfarrer, Kirchenmusiker und Gemeindepädagogen. „Unser Ziel ist es, mit den Nachbarschaftsräumen eine flächendeckende Präsenz von Kirche zu erhalten.“
Ein Kirchenpräsident muss sich viel mit Verwaltung und Struktur der Kirche befassen. Kam ihm dabei die Theologie zu kurz? Beides müsse ineinandergreifen, sagt Jung. „Das ist ja die Organisation des kirchlichen Lebens.“ Andersherum müsse man fragen: „Was ist unser Auftrag? Das Evangelium in dieser Welt weiterzugeben. Was bedeutet es also für uns als Organisation, wenn wir uns an diesem Auftrag orientieren?“
Nach seinen persönlichen Erfolgen in den 16 Jahren gefragt, sagt Jung: „Es ist mir gelungen, in diesen Veränderungsprozessen und Strukturdebatten die Fragen der Theologie wachzuhalten.“ Das seien zumindest die Rückmeldungen, die er bekomme. „Und eine Kirche, die viele Kräfte hat, einigermaßen zusammenzuhalten.“
Mit dem Abschied spürt Jung „schon ein wenig Wehmut“, aber auch Erleichterung, wenn manche Last abfalle und „man ein bisschen mehr Freiheit hat“. Es sei jedenfalls ein gutes Gefühl, in den Terminkalender für nächstes Jahr zu schauen, in dem relativ wenige Termine stünden. Einer ist der 26. Januar, wenn die offizielle Amtsübergabe an seine Nachfolgerin Christiane Tietz stattfindet. Ihre Amtszeit beginnt am 1. Februar.
Heiligabend verbringt Volker Jung wie in den vergangenen Jahren mit der Familie. Tradition hat es, dass er am ersten Weihnachtsfeiertag den Gottesdienst in der Katharinenkirche in Frankfurt hält. Krisen und Kriege prägen die Welt auch in den letzten Tagen Jungs als Kirchenpräsident – bis hin zum Anschlag auf den Magdeburger Weihnachtsmarkt, der auch ihn erschüttert hat und fassungslos macht.
Was kann in diesen Zeiten die frohe Botschaft von Weihnachten sein? „,Gott wird Mensch‘ ist die Grundbotschaft von Weihnachten. Die Nähe Gottes, die Jesus vermittelt, immer wieder neu zu entdecken und als Kraftquelle für den eigenen Glauben gerade in schwierigen Zeiten zu spüren ist für mich die frohe Botschaft von Weihnachten“, sagt Jung. „Dort, wo Menschen sich von Gott getragen und begleitet wissen, können sie Kraft entwickeln. Auch um für den Frieden in der Welt einzutreten.“