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Einzigartige Hommage an Künstlerin Maria Lassnig im Luma Arles | ABC-Z

Die 2014 verstorbene österreichische Malerin Maria Lassnig hat sich mit zwei Dingen in der Kunst verewigt: Sie hat den Expressionismus radikal umgemodelt, um ihn über die Zeit Kirchners und Schieles vor mehr als hundert Jahren schockierend aktuell zu halten; auf meist kalkweißen Hintergründen wird bei ihr Überzeitlich-Körperliches und das Verhältnis der Geschlechter in einer Weise verhandelt, dass ihre Bilder – sollten die Menschen nicht zu wandelnden KI-Chips mutieren – auch noch in hundert Jahren etwas Triftiges über die conditio humana mitzuteilen haben. Und zweitens fand sie einen Weg, das Altertum mittels dessen Mythologie in ihre Gemälde und Aquarelle zu holen, die noch einmal eine gänzlich andere Form der Antikenrezeption anbieten.

Obwohl eine solche Zuspitzung auf nur zwei Findungen einer Künstlerin naturgemäß ungerecht ist, weil sie alle letztlich ans Ziel der allzeit gültigen Form führenden Neben- und Umwege in Lassnigs fast siebzigjähriger Malbiographie übergeht – ihre frühe Phase der Vierzigerjahre etwa mit deutlicher Orientierung an Picasso, Schiele und Kokoschka ebenso wie die abstrakten Experimente unter dem Einfluss der Hard-Edge-Maler vor allem in New York –, scheint sie gerechtfertigt.

Hommage an eine besondere Nacht

Auch die konzentrierte Auswahl einer Lassnig-Retrospektive im Luma Arles bis Mai nächsten Jahres tut genau dies. Sie fokussiert auf die zwei Schwerkraftzentren einer wilden, unverändert brodelnden Antike wie auch einer Expressivität, die sich ausgiebig und bewusst der gemalten Tierfabel befleißigt. Auf der Stirnwand des ersten Saals hängt zudem „Frühstück mit Ohr“ als unverkennbare Referenz an Van Gogh als genius loci, dem der impressionistisch silbrig und blau im Wandel der ­Tageszeiten glänzende Luma-Turm von Frank O. Gehry wiederum als Hommage an die „Sternennacht“ gewidmet ist und den die Stifterin Maja Hoffmann mit einem betont wilden und weiten Programm füllt. Bei der Schweizer Pharma-Erbin und Mäzenin kommt noch der Wille hinzu, hier zwei spät entdeckte Außenseiter der Kunst zusammenzuführen.

Maria Lassnig: „Frühstück mit Ohr“, 1967Maria Lassnig Stiftung/VG Bild-Kunst, Bonn 2025

„Frühstück mit Ohr“ von 1967 ist schon deshalb ein Programmbild in Lassnigs Œuvre, weil es zwei Ikonen der Kunstgeschichte zu etwas gänzlich Neuem verschmilzt, die Inspiration durch große Vorbilder zugleich raffiniert reflektiert – und sich zu alledem gleich noch stilistisch freirudert. Das offenbar chirurgisch sauber und ohne Blut abgetrennte Ohr, mithin nicht angeschossen wie bei Van Gogh, liegt inmitten eines Tellers; ein schräg auf diesem liegendes Messer zeigt als Marterwerkzeug auf das Hörorgan. Für die kompromisslose Ausübung seiner Kunst, so scheint Lassnig andeuten zu wollen, muss sich der Maler im schlimmsten Fall auch ein Ohr abzuschneiden bereit sein.

Wenig humane Körper

Zu dieser im Kern christlichen Ikonographie der Schmerzensmänner und -frauen gehört auch die Fülle an Tüchern, die in Gestalt einer Picknickdecke unter der porzellanenen „Johannesschale“ mit dem abgetrennten Körperteil, einem aufgeworfenem blutroten Tuch darunter sowie über eine Leine gespannten Stoffen hinter den drei um den Teller gelagerten Gestalten im Nicht-Raum des Bildes schweben – erkennbar die auch im Bildtitel angespielte Grundkomposition aus Manets „Dejeuner sur l’herbe“.

Alle drei Figuren aber weisen deformierte, eierschalenfarbene und wenig humane Körper auf, die mit Küchengerät wie Toastern oder Kühlschränken gepaart wirken; der vordersten mit roten Lippen und nur zart angedeutetem Busen – eben die transformierte Nackte aus der Impressionisten-Ikone „Frühstück im Grünen“ –, ragen dünn und parallel zwei Gliedmaßen wie Stecker aus dem Leib. Obwohl die Wesen malerisch Ähnlichkeiten mit den Deformationen des Lassnig-Freundes Philip Guston oder Francis Bacon aufweisen, bleibt die einzigartige Amalgamierung der beiden Inspirationen Van Gogh und Manet mit seinem besonderen Licht doch allein ihre Erfindung.

Maria Lassnig: „Zwei Arten zu sein (Doppelselbstporträt)“, 2000
Maria Lassnig: „Zwei Arten zu sein (Doppelselbstporträt)“, 2000Maria Lassnig Stiftung/VG Bild-Kunst, Bonn 2025

Dazu kommt: Vor dem Kalkweiß ihrer ins buchstäbliche Nichts versetzten Hintergründe leuchtet das Fahlgrün der Vergänglichkeit umso greller auf, das sie ihren Körpern auf der Leinwand zu geben pflegte – oft welkes Fleisch, das seine ungesunde Farbe auch auf die meist überschaubaren Kleidungsstücke und Stoffe auf den Leibern abstrahlt, als säßen alle ihre Protagonisten unter den Neonröhren eines türkischen Cafés. Dieser unter Tausenden wiedererkennbare Stil ist bereits auf Lassnigs „Selbstbildnis mit Stab“ von 1971 zu finden.

„Hältst Du diesem Anblick stand?“

Auf diesem sitzt sie sich als junge Frau mit nacktem Oberkörper und also verletzlich selbst Modell vor der Staffelei, deren Gestell zwar nicht zu sehen ist, auf der aber eine grellweiße Leinwand mit einem eben begonnenen Bildnis der Künstlerin in einer etwas älteren Version mit Brille schräg hinter ihr schwebt. Den zur ruhigen Führung der Hand eingesetzten Malstock hält sie dabei wie eine Waffe zur Selbstverteidigung quer vor den Oberkörper, doch ist der Stab durch die Hautfarbe ihrer Brust geisterhaft überdeckt und in der Mitte unsichtbar, ebenso wie das Porträt im Hintergrund verlebendigt ist und phantomhaft seine Hände auf ihre Schultern legt. Lassnigs Inkarnat schimmert dabei so welkgrünlich wie ihre derbe Cargohose, ihr Selbstporträt scheint sich – den Betrachter vor dem Bild unverwandt und beinahe herausfordernd fixierend – im angesichts der ausgestellten Hinfälligkeit alles Menschlichen erschrockenen Blick des betrachtenden Anderen zu prüfen: „Hältst Du diesem Anblick stand?“

Es ist ein in mehrfacher Hinsicht lebendes „Selbst-Bildnis“ mit Dorian-Gray-Qualitäten. Der Mut zur Unansehnlichkeit äußert sich dabei oft auch in einem nach hinten gereckten Kopf, sodass ihre ohnehin kantige Kinnpartie wie ein Schiffsbug noch stärker sichtbar wird; durch dieses wohl schutzsuchend unsichere Zurücknehmen des Kopfes aus der direkten Blickschusslinie ändert sich jedoch auch der Augenwinkel, der nun argwöhnisch skeptischer von schräg hinten kommt. Die fahlen Farben wie auch den Kniff mit der Kopfdistanz setzt die Künstlerin bereits seit ihrem Selbstporträt von 1945 ein.

Selbstporträt als Tier

Häufig zwittern ihre verformten Körper neben den Fehlfarben auch in einem weiß abgetönten Rot durch die ansonsten leeren Bildräume. Ob sie in diesen Farben einen verrenkten Tanz mit Gevatter Tod als Skelett wagt, oder ob zwei origamihaft ausgefaltete Formen in diesem Rot von oben und unten vom Gemälderand einander entgegenkommen („Selbstporträt als Tier“ von 1963) – stets dringen und drängen Paradoxe aufeinander ein.

Lassnig gelingt es, polysensuale Eindrücke in Öl umzusetzen. Olfaktorisches, Geräusche wie das Summen von Bienen, das Fauchen und Schnurren von Raubkatzen (nach ihrer Südamerikareise ist häufiger ein Ozelot zu sehen, da sie dessen Fellornament malerisch besonders reizvoll fand). In den Bildern mit Umweltthemen, die Zeugen einer enormen Sorge Lassnigs für die bedrohten Natur sind, wird viel vorausgeahnt, was oft erst Jahrzehnte später zum Tragen kommen sollte. Auf ihrem „Atombild“ spürt man trotz der Unsichtbarkeit die Gefahr der Radioaktivität geradezu physisch. 1986 hatte sie ein Bild zu Tschernobyl gemalt, doch kommen darauf signifikanterweise keine leidenden Menschen vor, vielmehr ausschließlich Tiere.

Aber auch Tierstimmen suchte sie in eingängige Bilder umzusetzen. Wie die Kuratoren Hans Ulrich Obrist und Peter Pakesch sich simultan erinnern, war Lassnig nach Rückzug in das bäuerlich geprägte Dorf ihrer Kärntner Heimat eine Art Sankt Franziska, die wie der wunderliche Heilige aus Assisi mit den Tieren vor ihrem Bauernhof sprach. Als menschliche Stellvertreter spielten wilde Tiere in Lassnigs Selbstporträts ohnedies immer eine wesentliche, weil symbolträchtige Rolle. Schlagende Belege dafür sind das Bild „Mit einem Tiger schlafen“ und der gleichnamige autobiographische Film , der seine Premiere auf der Berlinale 2024 hatte.

Dies trifft auch auf Lassnigs Serie von Antikenbildern zu. Angeregt von langen Reisen zu den griechischen Inseln in den Achtzigern, saugt sie die gesamte antike Mythologie auf, um sie sich in zahllosen Aquarellen – abermals transformiert – anzueignen und wieder fruchtbar zu machen. Den Mythos der entführten Europa dreht sie kurzerhand um, indem bei ihr die Frau den Stier bei den Hörnern packt. Zwar nutzt sie noch vertraute antike Ikonographie, häufig aber setzt sie sich selbst in Tiergestalt in die Aquarelle ein. Die Technik der Wasserfarbenmalerei mit ihren fließenden Übergängen unterstützt dabei in besonderem Maße die oft bei ihr aufscheinenden Metamorphosen von Menschen in Naturelemente. Auch dieser Zug in Lassnigs Werks passt bestens nach Arles, das neben einer Van-Gogh-Stadt mit seiner Basilika St-Trophime und dem Kreuzgang voller Metamorphosen auch ein Bollwerk schillerndster Romanik ist.

Maria Lassnig: Living With Art Stops One Wilting! Hans Ulrich Obrist Archives, Chapter 5. Luma Arles; bis 10. Mai 2026. Kein Katalog.

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