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Carlo Acutis: Warum er als erster Millennial heiliggesprochen wird | ABC-Z

Carlo Acutis liegt in seinem gläsernen Sarkophag wie eine große, steife Puppe. Die Gesichtszüge und die Hände des Jungen, der 2006 mit 15 Jahren an Leukämie starb, wurden mit Silikon wiederhergestellt. Sie waren bereits verwest, als man ihn 2019 exhumierte. Sein stilles Herz liegt nicht unter der jugendlichen Sportjacke, die er zu Jeans und Sneakern in seinem Bett für die Ewigkeit trägt. Es wurde herausgeschnitten und dient künftig als Reliquie in der Kathedrale San Rufino in Assisi. Das Teenager-Organ war sogar schon auf Europatournee und im vergangenen Jahr auch in Deutschland zu Gast.

Am 7. September soll Acutis ein Heiliger werden. Dass er auch außerhalb der Gemeinde der Gläubigen so bekannt ist, scheint aber weniger mit den zwei Wunderheilungen zu tun zu haben, die der Vatikan ihm attestiert, als mit dem Internet. Dort wurden ihm griffige Spitznamen wie „Cyberapostel“, „Influencer Gottes“ oder „der heilige Millennial“ verliehen. Der Prozess zu Carlos Heiligsprechung lief im Turbotempo, statt der üblichen 100 Jahre hat er weniger als 20 gebraucht. Manchen geht das zu schnell. Ein Freund von Carlo sagte nun sogar einer Zeitung, dieser habe mit ihm nie über Jesus gesprochen. Übereilt der Vatikan die Heiligsprechung des jungen Mannes, um sich für eine junge Zielgruppe anschlussfähig zu geben?

Passt perfekt: Jung, fromm und im Internet aktiv

Thomas Schüller denkt das schon. Der katholische Theologe und Professor für Kirchenrecht an der Uni Münster erklärt: „Eine Heiligsprechung ist immer ein strategischer politischer Akt des jeweiligen Papstes.“ Für Franziskus, der wohl für die Expressheiligsprechung verantwortlich ist, habe Acutis perfekt ins Profil gepasst: ein junger frommer Mann, der seinen Glauben ausgerechnet im Internet verbreitet hat, da, wo sonst die Freikirchen die Nase vorn haben, wenn es darum geht, junge Menschen zu missionieren. Im Vergleich zu diesen, die über keine Zentrale verfügen, ist die katholische Kirche wie ein schwer beweglicher Tanker. Entscheidungen müssen mit viel Bedacht getroffen werden, alles geht sehr langsam. Schwierig, wo es mittlerweile gefühlt jeden Tag einen neuen Tiktok-Trend gibt. „Die Kirche weiß um ihre offene Flanke im Digitalen, und deshalb schafft man jetzt eine Ikone“, so die Einschätzung des Theologen.

Bald heilig: Miniaturfigur des noch seligen Carlo Acutis in einem Souvenirshop in Assisi.AFP

Dass der Vatikan eine Behörde ist, merkt man auch an dem Prozess, den Acutis durchlaufen muss, um heilig zu werden: ein verschnörkelter Weg durch einen komplexen und hierarchischen Apparat mit vielen Regeln. Wie eine politische Petition muss eine Heiligsprechung viele Hürden nehmen, bevor sich der Pontifex ihr persönlich widmet. Aber egal wie gut Acutis Franziskus gefallen haben mag: Ein Papst kann niemanden zur Heiligsprechung vorschlagen. Das tut der „Aktor“, der auch alle Kosten übernimmt. Häufig sind das Orden, seltener Privatpersonen. Im Fall von Carlo Acutis sind es seine Eltern. Vielleicht ist es ihre Art der Trauerbewältigung.

Heilig werden ist teuer

Insbesondere seine Mutter tritt in der Öffentlichkeit sehr präsent auf. Anders als bei einer Petition ist es dem Aktor untersagt, eine digitale Kampagne zu starten. Gott allein müsse die Herzen der Menschen für den Heiligen begeistern, sagt Schüller. Ein Buch über ihren Sohn hat Acutis’ Mutter trotzdem geschrieben. Dass Carlo in eine sehr wohlhabende Familie geboren wurde, ist für den Prozess ziemlich hilfreich. Schätzungen zufolge kostet der Highway in den Himmel 50.000 bis 250.000 Euro.

Von dem Geld werden der bürokratische Prozess bezahlt sowie die Menschen, die auswerten, ob Carlo zum Heiligen taugt. „Eine Art Heiligenministerium, das Dikasterium für Selig- und Heiligsprechungsprozesse, durchleuchtet das ganze Leben der Person“, sagt Thomas Schüller. Unmengen an Dokumenten werden untersucht, „um festzustellen, ob die Person würdig ist“, erläutert der Theologe, der selbst schon Mitglied einer solchen Kommission auf diözesaner Ebene war. „Es wird nach den hellen und den dunklen Seiten der Person gesucht.“

Feierlichkeiten zur Seligsprechung von Carlo Acutis im Jahr 2020. Nur fünf Jahre später wird er bereits heiliggesprochen – ungewöhnlich schnell.
Feierlichkeiten zur Seligsprechung von Carlo Acutis im Jahr 2020. Nur fünf Jahre später wird er bereits heiliggesprochen – ungewöhnlich schnell.dpa

Nach dem Tod muss fünf Jahre gewartet werden, dann kann der Prozess zur Seligsprechung angestoßen werden, die unabdingbar vor der Heiligsprechung steht. „Für eine Seligsprechung braucht es ein Wunder, für Heiligkeit zwei“, sagt Schüller, zum Beispiel Genesungen, die medizinisch nicht zu erklären sind. „Außerdem muss im Prozess bewiesen werden, dass die Menschen in besonderer Weise das Evangelium gelebt haben, in Wort und Tat. Und sie müssen den Glauben verbreitet haben. Das scheint ja bei Acutis der Fall gewesen zu sein.“

Das Dikasterium hat Carlo zwei Wunderheilungen zugesprochen. Im ersten Fall soll ein Junge aus Brasilien 2010 zu Acutis gebetet haben und ein Kleidungsstück von ihm berührt haben. Daraufhin wurde er angeblich von einer angeborenen Erkrankung der Bauchspeicheldrüse geheilt. Ins Verzeichnis der potentiellen Heiligen katapultierte Acutis 2022 der Fall einer jungen Costa Ricanerin, die nach einem Fahrradunfall schwerste Kopfverletzungen davongetragen hatte und im Koma lag. Ihre Mutter betete einen ganzen Tag lang vor Acutis’ gläsernem Sarg; noch am gleichen Abend soll sich der Zustand der jungen Frau maßgeblich verbessert haben. Obwohl Schüller Heiligsprechungen als politisches Instrument sieht, glaubt er nicht, dass diese Untersuchungen übereilt wurden: „Bei solchen Wunderheilungen schauen sich das unabhängige Kommissionen aus Fachärzten an, nicht irgendwelche Katholiken.“

Mitschülern hatte er von Pornos abgeraten

Carlo selbst wurde kein Wunder zuteil. Von seiner Diagnose, einer aggressiven Form der Leukämie, bis zu seinem Hirntod vergingen nur wenige Tage. Seine polnische Nanny soll ihm als Kind Gott nahegebracht haben. Wie ein normaler Teenager klingt Carlo nicht gerade; er soll seinen Mitschülern von Pornos abgeraten und erklärt haben, die Jungfrau Maria sei die einzige Frau in seinem Leben. In seiner Freizeit habe er Bedürftigen in seiner Heimatstadt Mailand sein Taschengeld überlassen und sie mit selbst Gekochtem versorgt. Seinen Glauben verbreitete Carlo über das frühe World Wide Web; er erstellte Websites, die sogenannte Eucharistiewunder auflisten. Die Eucharistie ist das katholische Abendmahl und ein zentraler Baustein des Katholizismus. Dabei werden Hostien geweiht, die dem Glauben nach durch dieses Ritual zum Leib Jesu werden.

Mit solchen Superoblaten hat sich immer wieder Unerklärliches zugetragen, und Carlo listete diese Wunder online. Der Antisemitismusbeauftragte der Bundesregierung, Felix Klein, hat bemängelt, in der Debatte um die Hostienwunder komme zu kurz, dass diese in der Vergangenheit Auslöser für antisemitische Ausschreitungen waren. Theologe Schüller meint: „Wie Acutis das eingeordnet hat, wird sich die vatikanische Kommission allerdings auch angeschaut haben.“ Dass sich der junge Carlo ausgerechnet der Marienverehrung und der Eucharistie widmete, sei ein Volltreffer für den Vatikan: „Für die Jugend ist das ja meistens ziemlich spooky“, sagt Schüller. Doch Acutis gibt Angestaubtem und Urkatholischem durch das Internet und seine Jugend einen neuen Glanz.

Dieser Text stammt aus der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung.



Theologe Schüller hat tiefes Vertrauen in die vatikanischen Behörden und ist überzeugt, dass im Dikasterium nicht geschlampt wird. Trotzdem hält er die Heiligsprechung von Acutis für überstürzt: „Es ist sinnvoll, nach dem Tod eines Menschen erst mal 100 Jahre zu warten. Man sieht es bei Papst Johannes Paul II.: Den würde heute aus gutem Grund keiner mehr heiligsprechen.“ Erst nach dessen Heiligsprechung wurde publik, dass er als Erzbischof sexuelle Übergriffe vertuscht hatte.

Zu kurz nach dem Tod, so Schüller, sei es noch nicht möglich, ein Leben vollständig auszuwerten, das Dunkle gegen das Helle abzuwägen. Und selbst wenn das Helle überwiege, müsse es nicht zu einer Heiligsprechung kommen: „Acutis war sicher außergewöhnlich, aber nach Sonntag spielt er mit seinem Webarchiv in einer Liga mit Hildegard von Bingen, einer außergewöhnlichen Intellektuellen, Ärztin, Psychologin, Kirchenpolitikerin. Oder mit Maximilian Kolbe, einem Priester, der in Auschwitz ermordet wurde, weil er Juden und Flüchtlingen half.“

Aus einem toten Teenager einen Heiligen machen

Bei der tatsächlichen Heiligsprechung an diesem Sonntag wird dann vor geladenen Gästen die Eucharistie gefeiert. Es wird ein großer Auftritt des neuen Pontifex sein, das Dekret zu verlesen, das Carlo vom Seligen in einen Heiligen verwandeln wird. „Jede Heiligsprechung ist ein Selbstbestätigungsakt der katholischen Kirche“, erklärt Schüller. Eine Machtdemonstration mit viel Prunk, Glanz und Glamour. So wie eine royale Hochzeit zeigt, dass die Monarchie weiterlebt, zeigt der Vatikan, dass niemand sonst die Macht hat, aus einem toten Teenager einen Heiligen zu machen.

Wir sind auf der Höhe der Zeit – das soll die Wahl dieses Heiligen sagen, so Thomas Schüller. Abgesehen von dem frischen Wind, den der Millennial bringen soll, liefert er auch kostbares Material: „Jeder Altar braucht die Reliquie eines Heiligen. Das kann eben nicht immer ein Splitter aus dem Kreuz Jesu sein. Da braucht es Nachschub.“ Auch deswegen sei Carlo exhumiert worden, für das Herz oder eine Locke.

Heilige haben zu tun. Sie sollen eine Art Kurzwahl zum lieben Gott sein, sie bekommen ein spezielles Fachgebiet zugeteilt. Acutis soll der Schutzpatron des Internets werden. Katholiken, die nach Sonntag gehackt werden oder vorschnell einen unüberlegten Post abgesetzt haben, dürfen in Zukunft also zum Heiligen Carlo beten.

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