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Lieblings-Lippenstift nach 20 Jahren aus dem Sortiment: Warum tun Marken dasjenige? | ABC-Z

Unfassbar, aber wahr: Plötzlich ist der seit 20 Jahren getragene Lippenstift nicht mehr zu kaufen. Das heilige Fuchsia von Yves Saint Laurent in seiner schlichten goldfarbenen Hülle ist wahlweise out of stock oder „nicht mehr im Programm“. So verkünden es die Websites von Onlineshops und Verkäuferinnen in Parfümerien gleichermaßen.

Dabei ist die Farbe mit der Nummer 19 aus der Serie Rouge Pur Couture schlicht und einfach das beste Pink der Welt. Die magische 19, die auf der Un­terseite meines letzten, fast aufgebrauchten Lippenstiftes kaum noch zu ent­ziffern ist, kenne ich aus dem Effeff. Sie gehört zu mir wie meine Hausnummer. Ein voller, tiefgründiger, luxuriöser, aber doch leuchtender Fuchsiaton. Weder poppig-grell noch mädchenhaft-lieblich.

Dieses Pink ist elegant, satt und hoch pigmentiert. Und nun ist damit Schluss? Die Farbe ist immerhin Yves-Saint-Laurent-DNA, wie kann man die nur killen? Es kommt mir so vor, als würde Chanel beschließen, das Parfum No. 5 nicht mehr zu produzieren. Oder Hermès keine Birkin-Bags mehr nähen.

Yves Saint Laurent ist nicht nur Modegeschichte

Denn Yves Saint Laurent, das ist eben nicht nur Modegeschichte mit dem Damen-Smoking, der Saharienne, also der Safarijacke, und den marokkanisch ins­pirierten Edel-Hippie-Kleidern mit Ethno-Klunkern von Loulou de la Fa­laise. Der Designer stellte die Farbtrias Orange-Rot-Pink von den Siebzigerjahren an für seine Kundinnen im Rive-Gauche-Spirit kongenial zusammen und machte sie zu seiner ganz eigenen Trikolore, mit der er in der Designwelt zu neuen Ufern aufbrach.

Und so war es nur logisch, dass sein Rouge Fuchsia neben Orange und Rot nicht nur auf Stoffen erschien, sondern eben auch seit 1979 in der Lippenstiftkollektion seiner Kosmetikserie. Vom Stoff auf die Haut schuf dieses Pink eine innige Verbindung: Die intensive, leicht blaustichige Farbe fühlte sich bei jedem Auftragen wie eine dicke indische Seide an, in die ich mich hüllte. Ein wenig exotisch, aber klassisch. Warm und kühl zugleich. Und jetzt?

Dieser Text stammt aus der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung.



Wenn ich meine Nummer 19 auf die Lippen malte, dachte ich dabei oft an den genialen Yves, der Mode immer wieder so phantasievoll neu sah. 150 Tage im Jahr strich ich diese Signature Colour, die Yves und ich teilten, auf meine Lippen. An den anderen Tagen war es ein tiefes Paloma-Picasso-Rot. Pink oder Rot, Rot oder Pink auf den Lippen – das war so wie Sonne und Mond, Tag und Nacht. Wie nur kann Saint Laurent mir die Sonne und den Tag nehmen? Wie sollen meine Lippen sich bewegen ohne dieses Fuchsia?

Aber: Sollte es in einer Welt, in deren Kosmetiktempeln man Platzangst inmitten des Überangebots bekommt, nicht möglich sein, schnell Ersatz zu finden? Tja, das glauben leider nur Anfänger. Farbe ist eine Wissenschaft für sich, die nicht umsonst weltweit an Kunsthochschulen unterrichtet wird. Auch die Haut ist eine Leinwand, eine launische dazu, und entsprechend kompliziert ist die Auswahl des individuellen Lippenstiftes. Es gibt glänzende, matte, durchsichtige, hochpigmentierte und glossige Varianten. Supertrockene Pasten und tintige Balsame. Perlmuttige Cremetexturen und Schleime, die auf den Lippen matschen oder sich über den Mundrand verteilen.

Alle Alternativfarben sind falsch

Natürlich probiere ich zuerst die einigermaßen ähnlichen Nachfolger aus der immer noch existierenden Lippenstift­serie Rouge Pur Couture von Yves Saint Laurent, die nun ein modernisiertes Packaging mit einem reliefartigen Logo hat. Aber: Es gibt nur noch ein weniger blaues Pink mit der Nummer P3, das in meinem Gesicht irgendwie visuell absäuft, der Kontrast zu meiner hellen Haut stimmt nicht. Mit einer anderen Fuchsia-Variante, dem viel zu grellen Slim-Lippenstift 08, sehe ich aus wie ein Clown. Ich brauche die 19!

Es beginnt eine verzweifelte Suche bei Konkurrenzmarken nach dem Alternativlippenstift, bei der ich bis heute – horri­bile dictu – über 300 Euro ausgegeben habe. Stattdessen hätte ich Aktien kaufen sollen. Denn: Alle Farben, von der Biomarke Lavera bis zum unverschämt teuren Gucci-Modell (50 Euro!), sind falsch. Auf der Suche nach dem verlorenen Pink grabe und grabe ich im Netz, wandere durch die Innenstädte. Hoffnung setze ich auf Pink Exaltation von Lancôme: zu grell. Bei der japanischen Firma Shiseido, die für ihre intensiven Farben bekannt ist: nichts. Bei Clinique, dem praktischen Allrounder: alles zu brav, zu hell, zu amerikanisch. Zu himbeerig. It’s Fuchsia, nicht Beere!

Chat GPT weiß auch nicht weiter

Von MACs Popstar Pink versprach ich mir viel. Für 20,71 Euro kommt er ins Haus. Aber: Er sieht nicht französisch genug aus. Vielleicht würde mich ein Pariser Macaron-Bäcker verstehen? Je mehr pinkfarbene Lippenstift­farben ich kaufe, umso mehr wundere ich mich, dass Paypal nicht alarmiert ist, wie viele Abbuchungen für nearly-fuchsia­farbene Lippenstifte über das Konto laufen.

Der letzte Rest: das Pink unserer Autorin
Der letzte Rest: das Pink unserer AutorinStefanie von Wietersheim

Ich probiere zudem die Onlinekonfi­guratoren weiterer Kosmetikmarken aus, bei denen man mit der Bildschirmkamera das Gesicht aufnimmt und virtuelle Lippenstifte aufsetzen kann. Ich sehe damit aus wie diverse Varianten schielender Geisterfrauen mit blutigen Lippen. Warum nur gibt es keine KI, die die richtige Farbe findet? Chat GPT weiß auch nicht weiter. Und eine Datingplattform für Frau­­en und Lippenstifte existiert leider noch nicht. So kommt es zu keinem Match.

Daher werde ich zur virtuellen Lippenstiftarchäologin, auf der Suche nach Nummer 19. Online liegt mein Liebling auf vielen Internet-Friedhöfen, mit Foto und Verkaufspreisen. Ich finde ihn in alten Shopeinträgen und Reviews. Mein Lippenstift wurde im Jahr 2013 auf einem niederländischen Blog besprochen. Auf einer rumänischen Website finde ich eine kleine „Travel Selection“ in Pink, scheitere aber beim Wagnis einer Bestellung an der Sprache. Vielleicht ist die Website eh schon tot?

Kann ich mit angebrochenen Testern leben?

Nachts suche ich auf Ebay nach Restposten. Tatsächlich werden Einzelstücke aus der alten Lippenstiftreihe Rouge Pur Couture für rund 20 Euro angeboten. In Uhingen, Halberstadt, Bad Pyrmont, in Gutenzell-Hürbel. Aber leider sind es nur unbrauchbare Farben wie Nummer 7, Nummer 21, Nummer 81. Wer will dunkles Berry Brazen oder Nu Inattendu? Ich schaue auf der Plattform „Kleinanzeigen“ nach und überlege, ob ich theoretisch, just in case, leicht benutzte Tester akzeptieren würde? Und wenn die Nutzerin Herpes hatte? Vorher eine kleine Schicht Farbe mit dem Fußpflege­gerät abfräsen? Yves, wenn du wüsstest! Manche Menschen verkaufen zudem nur die leeren goldfarbenen Hüllen deiner Lippenstifte. Und, nein, ich will nicht die Glossvarianten. Ich esse ja auch keine Suppe, wenn ich ein Sandwich will.

Langsam komme ich mir vor wie eine Besessene im Kosmetik-Darknet. Ich überlege, wie hoch meine Schmerzgrenze wäre, im Glücksfall noch einen Fuchsia-Stift zu finden. 80 Euro? 100 Euro? Wie viele würde ich auf Vorrat kaufen? Wie lange würden sie halten? In meiner Verzweiflung wechsle ich rüber zur Vintage-Fashion-Seite Vestiaire Collective, wo viele Produkte von Yves Saint Laurent verkauft werden. Hier wimmelt es von Produkten in Pink: Schuhen, Portemonnaies und Ohrringen. Aber ich brauche sein Pink nicht an den Füßen, sondern zwischen Nase und Kinn.

Lippen in Pink - aber ist es auch das richtige?
Lippen in Pink – aber ist es auch das richtige?Picture Alliance

Letzte Hoffnung ist der Anruf bei Katharina Struck, der Pressesprecherin für Yves-Saint-Laurent-Beauté-Produkte im Konzern L’Oréal. „Wir müssen checken, ob Ihre Farbe nur in Deutschland oder aber global ausgelistet wurde“, sagt sie sehr freundlich. Ich lerne von ihr, dass die Beautyfirma immer wieder einmal eine – französisch ausgesprochene – rénovation macht, bei der Farbtöne angepasst, unbenannt oder vom Markt genommen werden. Verantwortlich dafür sind der globale Make-up-Direktor und auch regionale Manager. „Aber doch nicht das berühmte Pink!“, jaule ich.

Heißt das, mein Pink hat gefloppt?

„Mit der Veränderung des Beauty-Looks entsprach die Farbe Fuchsia – obwohl ikonisch – nicht dem aktuellen Trend und war für das weltweite Publikum nicht umfassend genug“, meldet Frau Struck ein paar Tage später zurück, nachdem sie nachgeforscht hat, was mit meinem Fuchsia los ist. „Wir haben vor Kurzem beschlossen, den Farbton neu zu interpretieren, und eine neue Palette von Pink eingeführt.“ Heißt das, mein Pink hat gefloppt, und ich lebe hinter dem Mond? Wahrscheinlich. Die letzte rénovation war 2022, und ich habe sie nicht mitbekommen.

Geht es eigentlich nur mir so? Oder erhält der Kosmetikgigant öfter verzweifelte Mails von Kundinnen, deren Lieblingsprodukt nicht mehr erhältlich ist? „Wir bekommen schon viele Kundenanfragen, und wir versuchen, Alternativprodukte für persönliche Lieblings­shades anzubieten“, sagt Frau Struck diplomatisch. Ich frage hoffnungsvoll, ob es in irgendeinem geheimen Lager vielleicht noch ein paar Lippenstifte für mich geben könnte, also rein theoretisch. Und überhaupt: Was passiert mit den vielen nicht verkauften Produkten? Werden sie zerstört?

„Da es ein großes Bewusstsein für nachhaltige Produktion gibt, versuchen wir Überproduktionen von Anfang an zu vermeiden und für bestimmte Märkte die beliebten Produkte genau in der Menge anzupassen“, sagt Katharina Struck. Kosmetikreste und ausgelastete Produkte würden gespendet oder für besondere Verkaufsaktionen zu attraktiven Preisen verkauft. Ein Grund dafür ist auch, dass Lippenstifte offiziell nur eine begrenzte Haltbarkeit von meist zwölf Monaten haben – auch wenn sie in der Praxis deutlich länger benutzt werden. Ich sage der Spezialistin nicht, dass manche meiner Lippenstifte schon acht Jahre in meinem Schminkregal liegen.

Es ist Pink, aber nicht Yves-Pink

Nachdem ich bei Yves Saint Laurent nun tatsächlich nicht mehr fündig werde, versuche ich es bei Chanel. Auf Chanel – meine 25 Jahre alte schwarze Handtasche mit der Gliederkette beweist es – ist eigentlich immer Verlass. Ich schildere der dortigen Pressedame mein Unglück mit dem Pink. Nach Rückfrage bei ihrem Make-up-Direktor schickt sie mir zwei Farben zum Austesten: das hoch konzentrierte Rose Audacieux mit der Nummer 838 und das samtige Intense mit der Nummer 45. Die Hoffnung ist groß, als ich beide Farben bei Tageslicht vor dem Schminkspiegel probiere. Aber ich habe es schon befürchtet, als ich den Stift hochschraubte: Nein, keine Spur von Yves-Pink. Es ist Pink, ja. Aber die Nummer 45 hat nicht genug pinkfarbene Power. Und das Rose Audacieux geht fast schon ins Rot. War ein Versuch.

Letzte Idee: Anruf in der einschlägigen Pariser Boutique „By Terry“ in der Galerie Véro-Dodat, die 1998 von der legen­dären Make-up Artistin Terry de Gunzburg gegründet wurde und die lange Zeit Gesichtsfarben sur mesure anbot. „Leider stellen wir nur noch individuelle Gesichtspuder her, keine Lippenstifte mehr“, sagt der Monsieur am anderen Ende der Leitung und legt auf. Das war es wohl.

Nun, dann kommt eben der Abschied

Nun, dann kommt eben der Abschied. La fin. Ich nehme meinen fast leeren, geliebten Fuchsia-Lippenstift in die Hand, schraube ihn hoch und blicke auf den winzigen Farbrest in der Patrone. Er leuchtet wie immer. Mit einem kleinen Pinsel hole ich andächtig eine Schicht Farbe aus dem Bodensatz des Reservoirs, das noch ein paar Millimeter in die Tiefe geht. Die unterirdische Schicht, die ich früher nie so achtsam abgetragen habe, riecht ein wenig nach Rose, das ist mir noch nie aufgefallen. Und nach Wehmut riecht sie auch, so wie Paris im November.

Damit könnte für mich und die Nummer 19 Schluss sein. Allerdings meldet sich Yves Saint Laurent Beauté noch einmal, mit dem Hinweis, dass die Firma ein smartes Hightech-Gerät entwickelt hat, mit dem Kundinnen per Scan ihren Lippenstift in Wunschfarbe zu Hause selbst mischen können. Das schicke schwarze Tool heißt „Rouge sur Mesure“, funktioniert per Handy-App und kostet 330 Euro. Hinzu kämen noch Farbpatronen. Ob ich den Lippenstift-Thermomix aus Paris probieren werde? Ich weiß es noch nicht. Für den Preis kann ich nach Marrakesch fliegen.

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