Einmal in der Woche fließendes Wasser | ABC-Z
Spätestens auf dem Weg von der türkischen Grenze nach Aleppo wurde Firaz klar, dass von seinem Elternhaus nicht mehr viel übrig sein würde. In den zerbombten Ortschaften, durch die sie fuhren, starrten ihn leere Fensterhöhlen an. Plünderer haben jeden einzelnen Fensterrahmen entfernt. Die Soldaten des Assad-Regimes sollen die Häuser ausgeschlachtet oder die Rechte dazu an Plünderer verkauft haben. So wird es in Aleppo erzählt. Im Elternhaus von Firaz wurden selbst die Kabel und Eisenteile aus den Wänden gerissen. Zurück blieb nur bröseliger Beton.
Firaz ist einer von Tausenden Syrern, die in diesen Tagen aus der Türkei nach Aleppo zurückgekehrt sind. Was er vorfand, war schlimmer, als er erwartet hat. „Die ganze Gegend hier ist tot. Wir haben nur einmal in der Woche fließendes Wasser. Strom gibt es gar nicht“, sagt er im Haus seines Onkels im Stadtteil Tariq Al-Bab. Während die Innenstadt von Aleppo weitgehend intakt und lebendig wirkt, sind Außenbezirke wie dieser von den Luftangriffen der vergangenen Jahre verwüstet. In der Gasse vor dem Haus knattern Generatoren. Das Mobilfunknetz ist so schwach, dass nur ab und zu eine Textnachricht durchdringt. Das Wasser ist in den vergangenen Tagen offenbar durch Kämpfe zwischen türkeitreuen und kurdischen Milizen nahe dem Staudamm nördlich der Stadt noch knapper geworden.
Nach 13 Jahren immer noch ein Fremder
Eigentlich wollten Firaz’ Eltern und Geschwister aus der Türkei rasch nachkommen. Doch diesen Plan haben sie nun verworfen. „Sie werden noch mehr Geld sparen müssen, damit wir das Haus wieder aufbauen können.“ Trotzdem bereue er seine Entscheidung nicht, sagt Firaz. „Wenn die Leute nicht zurückkommen, werden wir dieses Land niemals wieder aufbauen.“ Er hoffe auf die neue Übergangsregierung und darauf, dass es für Bauarbeiter wie ihn bald Jobs im Wiederaufbau geben werde.
13 Jahre „als Fremder zu leben“ sei genug. Im Juli hatte es in der Türkei gewaltsame Übergriffe auf Syrer gegeben. Auch in Firaz’ Nachbarschaft in Kahramanmaraş wurden Geschäfte in Brand gesetzt. Schon vorher war sein Leben in der Türkei von Schicksalsschlägen überschattet. Bei dem verheerenden Erdbeben im Februar 2023 verlor er seine Frau und zwei seiner vier Kinder. Diese Erfahrungen erleichterten ihm die Entscheidung, sofort nach dem Sturz des Diktators Baschar al-Assad auszureisen. Sein Flüchtlingspass wurde an der Grenze eingezogen. Zurück kann er nicht mehr. Auch Firaz’ fünfjähriger Sohn sagt, er sei froh, in Aleppo zu sein, „weil es hier keine Erdbeben gibt“.
Nicht nur mittellose Leute wie Firaz sind zurück in Aleppo, auch Unternehmer wie Saeed Nahhas. Bis 2012 produzierte seine Firma dort Maschinen für die Lebensmittel- und Medikamentenindustrie. Inzwischen hat sie ihren Sitz in Istanbul. „Wir bauen unser Geschäft wieder auf“, sagt Nahhas. Noch ist er mit Bestandsaufnahme beschäftigt. Viele seiner Fabriken und Büros seien zerstört, viele Mitarbeiter getötet worden oder ausgewandert. Vieles ist noch völlig unklar. „Es gibt noch kein System, keine Regierung.“
Niemand weiß, unter welchen Bedingungen sie künftig produzieren, Waren importieren und exportieren können. Trotzdem berichtet Nahhas, er habe in den vergangenen Tagen in Aleppo zahlreiche zurückgekehrte Geschäftsleute getroffen, die inzwischen in der Türkei, Ägypten oder Europa aktiv seien. „Sie wollen alle zumindest eine Zweigstelle hier eröffnen, wenn nicht ganz zurückkommen.“ Aus Heimatliebe und weil sie wirtschaftliches Potential sähen.
Träume von der Zukunft
Erst gut zwei Wochen ist es her, dass Aleppo von den islamistischen Rebellen unter Führung der Hay’at Tahrir al-Sham erobert wurde – als erste Stadt auf dem Vormarsch nach Damaskus. Im Bürgerkrieg ließ Assad von 2012 an Fassbomben über der zweitgrößten Stadt des Landes abwerfen. Damals flohen viele Bewohner in die nahe gelegene Türkei. Mehr als 40 Prozent der syrischen Flüchtlinge im Nachbarland stammen aus Aleppo und Umgebung. 2016 eroberten Regierungstruppen die Stadt mithilfe der russischen Luftwaffe und Kämpfern der libanesischen Hizbullah. Seither herrschten hier die Schergen Assads.
Auf dem zentralen Saad-Allah-Platz versammeln sich am Freitag nach dem Mittagsgebet Zehntausende zu einer Siegesfeier. Sie schwenken Fahnen und singen Revolutionslieder. Viele erzählen von Terror und Willkür. Von Angehörigen, die an Kontrollposten des Regimes festgenommen wurden und nie wieder aufgetaucht sind. Ein Geldhändler, der zur drusischen Minderheit gehört, berichtet, dass er wegen einiger Dollar in der Tasche vier Jahre in Haft war. Eine Frau wiederum hat Angst, sich zu äußern: Ihre Söhne haben für das Regime gearbeitet. Etliche feiern zwar den Sturz des Diktators, aber machen sich ebenso Sorgen über die Preise für Zucker und Brot.
Auch Rückkehrer aus der Türkei trifft man auf dem Platz. Muhammad Shbeeb, ein Journalist, wurde vor sechs Monaten aus Istanbul abgeschoben. „Bis vor zwei Wochen hatte ich keinerlei Hoffnung. Jetzt haben wir wieder Träume.“ Nun könne wahr werden, wofür er vor 13 Jahren als Student auf die Straße gegangen sei. Aufgrund seiner Kontakte zu den Rebellen der „Syrischen Nationalen Armee“ ist Shbeeb jetzt Teil der provisorischen Verwaltung. Er sei dafür zuständig, den Schutz von Regierungsgebäuden zu organisieren, sagt er. Auf seiner Stirn klafft eine frische Wunde. Zwei seiner Begleiter seien am Vortag erschossen worden, an einer Frontlinie mitten in der Stadt. Dort, wo protürkische Milizen auf kurdische Freischärler treffen, die offenbar weiterhin zwei Stadtteile unter ihrer Kontrolle haben.
Shbeeb weiß, dass viele im Ausland den neuen islamistischen Machthabern skeptisch gegenüberstehen. „Nimm das Kopftuch ab“, sagt er deshalb. „Aleppo ist eine multikulturelle Stadt.“ Er erzählt eine Anekdote, die aus seiner Sicht den Geist des neuen Syriens repräsentiert. Er sei mit bewaffneten Milizionären unterwegs gewesen, als ein Mann sie angesprochen habe. „Aleppo ist zu groß für euch“, habe er gesagt. „Wie wollt ihr eine Stadt dieser Größe verwalten, wie wollt ihr Brot, Wasser und Strom bereitstellen?“ Während des Assad-Regimes habe sich niemand getraut, Bewaffnete in dieser Weise zu konfrontieren. „Jetzt kann jeder frei sagen, was er denkt.“