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Einkaufen in Bad Nauheim: Unverwechselbarkeit statt Modeketten | ABC-Z

Kurz nach Mittag an einem Tag unter der Woche: Auf der belebten Stresemannstraße bummeln Paare mittleren Alters mit einem Eis in der Hand, Rentnerinnen tragen schnaufend ihre Einkaufstüten, Jugendliche schwatzen beim Kaffee. Ein Mann in einem Marktwagen verkauft Hummus und Halva aus Israel, eine Boutique gegenüber zur Jahreszeit passendes Schuhwerk aus Italien. Stella heißt der Laden mitten in Bad Nauheim – und die Chefin zählt zu einer Mehrheit am Ort: den Betreibern inhabergeführter Geschäfte.

Wer die Namen der Geschäfte an der Einkaufsstraße liest, mag im ersten Moment irritiert sein. Dort findet man anders als in anderen Innenstädten kaum Modeketten. Hier Bonita, da Cecil, dort Street One – aber kein H&M, kein Zara, nicht einmal ein New Yorker. Dafür Hinzen und Mode Vogt, Ruths und Weyrauch. Ähnlich sieht es in den Reihen der Anbieter von Accessoires und Schmuck aus. Statt Bijoux Brigitte gibt es hier Bijoux am Park, gelegen an der Parkstraße. Auch dort herrschen Einzelkämpfer unter den Einzelhändlern vor. In der Innenstadt gibt es rund 80 inhabergeführte Einzelhandelsgeschäfte, dazu ebenfalls nicht zu Ketten zählende Friseure, Versicherungen, Reisebüros, Immobilienmakler sowie Gastronomiebetriebe. Ihnen stehen 17 Ketten gegenüber, Parfümerien und Drogerien inklusive. Dies ergibt sich aus dem Gewerbekataster.

Gegen die Ansiedlung von Ketten ausgesprochen

Der Inhaberin von Stella bereitet das keine Sorgen. Im Gegenteil: „Ich finde es gut, dass so gut wie keine Ketten hier sind“, sagt sie lächelnd. Sie erinnert an eine Unterschriftenaktion vor ein paar Jahren. „Da haben wir uns gegen die Ansiedlung von Ketten ausgesprochen.“ Das Publikum honoriere das. Ihre Kunden kommen nicht nur aus der Kurstadt und ihrer Umgebung. Auch aus Frankfurt und Wiesbaden reisen sie an, wie sie sagt. Und aus Bad Homburg – da kämen „viele“ her. Sie schätzten die Schuhe, die sie selbst während der Messe in Mailand aussuche und bestelle. Auf den Preisschildern finden sich regelmäßig dreistellige Zahlen. Winterware kann durchaus 600 Euro kosten. Von Käuferstreik aber keine Spur: Die Inhaberin hebt hervor, sie sei mit der Geschäftslage zufrieden. Unter Händlern ist das gemeinhin das höchste der Gefühle. Luft nach oben muss schließlich bleiben.

Das nur ein paar Schritte entfernt gelegene My Brands bietet Bekleidung auch für den schmaleren Geldbeutel an, ohne aber ein Billigladen zu sein. Die Frau im Laden fragt sich mit Blick auf Discount-Angebote mancher Ketten, wie die Preise zustande kommen. Textilien für sechs oder sieben Euro – „wie ist da der Einkaufspreis?“ Und wer nähe solche Sachen zu welchen Bedingungen. Mit Blick auf die Stresemannstraße und benachbarte Lagen sieht sie es wie die Inhaberin von Stella. Die weitgehende Abwesenheit von Modeketten sei ein Vorteil für die Kurstadt. Die Boutiquen böten Individualität und ein persönliches Gespräch statt Massenware ohne viel Beratung. „Unsere Kunden freuen sich darüber“, hebt sie hervor. Um die Ecke bei Nice2Have sind fast die gleichen Worte zu hören. Die Kundschaft freue sich über das Angebot – und darüber, „nicht das tragen zu müssen, was alle tragen“. Dabei bietet das Geschäft ein Top für 15 Euro ebenso wie Blazer und Kleider für 250 Euro oder mehr. Auch zu Modenschauen hat es schon geladen, so in diesem Frühjahr.

Nachfrage bei Natascha Schmidt, der Vorsitzenden des regen Gewerbevereins Erlebnis Bad Nauheim: Ist die weitgehende Abwesenheit von Modeketten ein Vorteil oder ein Nachteil für die Stadt? Schmidt, die hier und in Friedberg unter der Marke Schuckhardt’s Lifestyle-Geschäfte betreibt, sieht darin einen Pluspunkt. Der Verein heiße die Dominanz inhabergeführter Geschäfte ausdrücklich gut. Sie gewährleisteten Individualität. Anderswo könnten Kunden nicht sagen, in welcher sie sich befänden, wenn sie per Helikopter auf der Shoppingmeile abgesetzt würden. Das ist zwar sinnbildlich gesprochen, aber inhaltlich so gemeint. Und es ist ein Leitbild für kleinere Städte, wie Schmidt meint. Ganz auf Ketten verzichten will sie aber keineswegs. Denn: „Große Marken sind Zugpferde.“ So sei die Parfümerie Douglas ganz wichtig für die Innenstadt. Gleiches gelte jedoch auch für das Kaufhaus Weyrauch. „So etwas gibt es anderswo nicht.“

Selbstbewusst mit Weyrauch-Taschen

Der Präsident des Handelsverbands Hessen, Jochen Ruths, hebt ebenso die Bedeutung des Unikums hervor. Kunden trügen ganz selbstbewusst ihre Weyrauch-Taschen durch die Stadt. Der größere Fluch als die weitgehende Abwesenheit von Modeketten sei eine Dominanz von Marken, die überall auftauchten, sagt er. Marken wie das Unterwäsche-Label Intimissimi und den Bademoden-Anbieter Calzedonia könnte er sich gleichwohl gut in der Kurstadt vorstellen. Manche Kunden vermissen durchaus H&M oder auch Kinderschuh-Anbieter, wie eine Zufallsumfrage ergeben hat. Bad Nauheim sei dessen ungeachtet eine attraktive Stadt zum Ausgehen und Shoppen, sagt Modehändler Ruths. Die Stadt habe die Stresemannstraße schön gestaltet, das diene der Grundfrequenz.

Kettenarm: Die Stresemannstraße in Bad NauheimStefan Nieland

Außerdem geht die Stadt, was Händler ihr zugutehalten, selbst gegen Leerstand vor. In einem Ladenlokal sorgt sie an der Stresemannstraße mit dem Konzept „Aufgemacht“ dafür, dass Gründer sich und ihre Ideen ausprobieren können. Als Erste haben davon die Inhaberinnen von Nei’s profitiert, die in Kolumbien und von eigener Hand gemachte Schuhe und Hüte, Gürtel und Handtaschen anbieten. Einen zweiten Laden dieser Art gibt es in ganz Deutschland nicht. Derzeit hat sich Natascha Schmidt zusammen mit Claudia Horlacher von Lucky Man and Woman in dem Pop-up-Store eingemietet. Beide betreiben dort ihre Kleideria. Der Name ist Programm.

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