Eine Doku zeigt ihre letzte Pazifiküberquerung | ABC-Z

„Sie würde es lieben“, sagt Debra Madsen. „Sie wäre begeistert, sie hätte so viel Spaß daran, mit all diesen Leuten zu reden. Das ist es, was mich mit am traurigsten macht, wenn ich daran denke, was sie alles verpasst: wie intensiv sie das hier erleben würde.“ Sie, das ist Angela Madsen, die Frau, mit der Debra Madsen seit 2007 zusammen und seit 2013 verheiratet war: Abenteurerin, Extremsportlerin, Medaillengewinnerin bei den Paralympics.
Im Juni 2020 verunglückte die Amerikanerin tödlich beim Versuch, allein von Kalifornien nach Hawaii zu rudern, 4100 Kilometer durch den Pazifik. Jetzt zeigt der Film „Row of Life“, der in diesen Tagen durch Deutschland tourt (Termine unter www.oceanfilmtour.com), das außergewöhnliche Leben der querschnittsgelähmten Sportlerin. Und die vielen Reaktionen auf diesen Film sind es, von denen Debra Madsen glaubt, dass sie Angela so erfüllt hätten.
Angela Madsen, 1960 im Bundesstaat Ohio geboren, wurde mit 17 Mutter. Sie zog ihre Tochter allein auf, bewarb sich als herausragende Sportlerin um ein Universitätsstipendium, wurde aber abgelehnt – weil man ihr, wie sie später schrieb, nicht zugetraut habe, Vollzeitstudentin und zugleich alleinerziehende Mutter zu sein. So ging sie, aus einer Soldatenfamilie stammend, zu den Marines. Vor allem weil ihre Brüder, ebenfalls Marines, ihr nicht zutrauten, sich dort behaupten zu können. „Das war etwas, was sie immer angetrieben hat“, sagt Debra Madsen bei der Deutschlandpremiere in Hamburg. „Wenn Leute ihr sagten, sie würde etwas nicht schaffen. Dann musste sie das machen. Und arbeitete mit aller Kraft dafür.“
Ein Trainingsunfall beendete ihre Sportkarriere
Als Militärpolizistin kam Angela Madsen nach Kalifornien. Sie begann zu surfen, spielte Basketball und rückte bald in die Auswahlmannschaft des Marine Corps auf. Dann veränderte ein Trainingsunfall alles. Sie stürzte, eine Teamkollegin landete auf ihrem Rücken. Die Folge: eine schwere Bandscheibenverletzung. Ihre Sportkarriere war vorbei und nach einem Streit mit dem Kommandeur auch ihre Militärkarriere. Madsen wurde entlassen, mit 21 war sie wieder Zivilistin. Sie hielt sich und ihre Tochter mit einfachen Jobs über Wasser, begleitet von ständigen Schmerzen im Rücken. 1993 rieten ihr die Ärzte zu einer Operation – und die Operation in einem Veteranenkrankenhaus ging fürchterlich schief. Nach Behandlungsfehlern blieb Angela Madsen gelähmt.
Der Streit über die Behandlungskosten ruinierte sie finanziell. Sie verlor ihre Wohnung, ihr damaliger Lebenspartner verließ sie. Madsen war obdachlos, lebte auf der Straße, im Rollstuhl, kämpfte mit Depressionen. Mit 34 war sie am Tiefpunkt ihres Lebens. „Es war die Güte anderer, durch die sie dann den Sport wiederentdeckt hat“, sagt Debra Madsen. Eine Veteranengruppe weckte ihr Interesse für Rollstuhlwettkämpfe, brachte sie zurück aufs Spielfeld. „Sie war ein Sportmensch, das war ihr Ding“, sagt Debra Madsen. „Als sie zurück in den Sport kam, änderte das alles, ihr Denken, ihr Leben. Das war so wichtig für sie.“ Es war auch der Grund dafür, dass ihr zeitlebens viel daran lag, anderen Menschen ähnliche Chancen zu bieten. Sie anzuregen, das für sich zu entdecken, was „sie weitermachen lässt“, wie Debra Madsen sagt: Sport, Reisen, Fotografie, egal, was. Das war es, was Angela Madsen weitergeben wollte: Ja, es passieren schreckliche Dinge. Aber das ist keine Todesstrafe. Das Leben ist nicht vorbei, es ist nur anders. Es geht weiter.
Neben Basketball und Volleyball entdeckte Angela Madsen das Rudern. Sie trainierte hart, war im Nu erfolgreich. 2007 ruderte sie zu zweit über den Atlantik, 2008 startete sie bei den Paralympics in Peking. Ein Jahr später ruderte sie mit einer Partnerin über den Indischen Ozean, 2010 mit drei Ruderinnen rund um Großbritannien. Bei den Paralympics in London 2012 gewann sie eine Bronzemedaille als Leichtathletin, im Kugelstoßen, auch 2016 in Rio de Janeiro war sie im amerikanischen Paralympics-Team dabei. „Sie war ein Naturtalent“, sagt Debra Madsen.
Begegnet waren sich die beiden 2007, vor Angela Madsens erster Atlantiküberquerung. Sie führte damals Menschen mit Beeinträchtigungen ans Rudern heran, die Sozialarbeiterin Debra Madsen nahm mit einem Jungen im Rollstuhl an dem Programm teil. „Was mich dort am meisten beeindruckte, war, dass sie den Leuten das Gefühl gab, für sie wichtig zu sein“, sagt Debra Madsen. Viele der Teilnehmer bräuchten lange, ehe sie den Mut aufbrächten, auf andere zuzugehen, auch weil sie erlebt hätten, dass sie bei anderen selten Gehör fänden. „Angela schenkte ihnen ihre volle Aufmerksamkeit. Als wäre das, was sie sagten, das Wichtigste der Welt. Das schätzten die Teilnehmer.“
Menschen, die schon aufgeben wollen, eine neue Richtung zu geben, ihnen zu sagen, dass sie alles erreichen können, was sie erreichen wollen – das war Angela Madsens Mission. „Du weißt vorher nie, wie du die Leute verändern kannst“, sagt Debra Madsen, die selbst viele solcher Gespräche geführt hat. „Vielleicht ist es an diesem Tag genau das, was diese Person gebraucht hat, um das Leben wieder in den Griff zu kriegen.“ Inzwischen ist es ihre Mission, Angelas Geschichte weiterzutragen. Wie durch den Film. Das Letzte, sagt Debra Madsen, was Angela ihr am Telefon gesagt habe, sei gewesen: Bring diesen Film raus. Egal, was du dafür tun musst.
Sie hatte nie genug von Extremabenteuern
Die Solopazifiküberquerung war eines ihrer großen Ziele. Ein erster Versuch 2013 war nach einer Knieverletzung fehlgeschlagen. Die Hoffnung, dass Angela Madsen irgendwann genug haben könnte von Ozeanüberquerungen und Extremabenteuern, die hatte Debra Madsen schon aufgegeben. „Sie kam immer mit neuen Projekten, die sie unbedingt schaffen wollte. Hätte es mit dem Pazifik geklappt, wäre sie mit der nächsten Idee gekommen.“ Hatte sie Angst um ihre Partnerin? Nicht wirklich, sagt Debra Madsen. Sie habe auf Angelas Erfahrung vertraut, auf ihre mentale und physische Stärke.
Tatsächlich schien Angela Madsen auch diesmal auf einem guten Weg. Nach dem Start am 23. April 2020 in Los Angeles kämpfte sie erst mit ungünstigen Winden, überstand eine heikle Situation, als sie gefährlich nahe Richtung Land gedrückt wurde. Danach aber kam sie gut voran. Am 10. Mai beging sie ihren 60. Geburtstag an Bord. „Auf den Bildern, die sie schickte, sah sie so glücklich aus, strahlte auf eine Art, dass jeder sehen konnte: Sie liebt das hier“, sagt Debra Madsen. Ihre größte Freude sei es gewesen, weit draußen auf dem Meer zu sein, ganz allein. Tausende Meilen ringsum nur Wasser.
Mitte Juni hatte Angela Madsen knapp die Hälfte der Strecke geschafft, die härtere Hälfte, wie Debra Madsen sagt. Dann näherte sich ein Zyklon. Um den Wirbelsturm sicher zu überstehen, musste sie den beschädigten Treibanker am Bug des Boots reparieren. Dafür musste sie ins Wasser – und das war für sie gefährlich, besonders bei höherem Wellengang wie in diesen Tagen. Aber sie hatte keine Wahl. Am 21. Juni schrieb sie: „Morgen ist Schwimmtag.“ Danach herrschte Funkstille. Was für sie höchst ungewöhnlich war. Auf dem Tracker war zu sehen, dass ihr Boot nur noch mit der Strömung nach Süden trieb. Debra Madsen wusste: „Irgendetwas war schiefgelaufen.“
Ein Frachtschiff barg ihren Leichnam
Sie alarmierte die Rettungskräfte. Nach Stunden der Ungewissheit entdeckte ein Flugzeug der Küstenwache beim Überflug Angela Madsen leblos im Wasser treibend, durch eine Sicherheitsleine mit dem Boot verbunden. Die Besatzung eines Frachtschiffs in der Nähe barg wenig später ihren Leichnam. Angela Madsen war 2100 Kilometer vor Hawaii und knapp 2000 Kilometer von Kalifornien entfernt verunglückt. Weit draußen, ganz allein.
Debra Madsen erfuhr davon am Telefon. Was genau geschah, ist unklar. „Sie war superstark, sie hatte immer die Kraft, irgendwie zurück aufs Boot zu kommen“, sagt Debra Madsen. Deshalb glaubte sie erst, sie habe sich im Wasser am Kopf verletzt, sei bewusstlos geworden. Ihr Leichnam aber wies nur einen Kratzer am Schienbein auf. „Ich glaube, sie war unterkühlt. Selbst in recht warmem Wasser kann Unterkühlung mit der Zeit zur Gefahr werden. Und Angela konnte ja nichts fühlen, erst ab hier etwa wieder“, sagt Debra Madsen und hält die Hand auf Höhe des Bauchnabels. „Da war es wohl zu spät.“ Der Treibanker, wurde später festgestellt, war repariert – sie musste also längere Zeit im Wasser verbracht haben.
Debra Madsen schaltete erst einmal „in den Arbeitsmodus“. Zeit zu trauern, sagte sie sich, sei später. Sie organisierte den Transport des Leichnams, suchte das Boot, lange vergeblich. Es war von einem Hurrikan erfasst worden, verschwand scheinbar für immer – und wurde dann, 16 Monate später, auf den Marschallinseln in Ozeanien angespült, Tausende Kilometer entfernt. Am wichtigsten aber war ihr, Angela Madsens Projekt zu Ende zu bringen. Mit der Familie brachte sie ihre Asche nach Hawaii, überquerte dort symbolisch mit ihr die Ziellinie. Während der Zeremonie sei ein einzelner Delphin über den Bug ihres Boots gesprungen. Für Debra Madsen war es das Zeichen: „Sie war glücklich, dass wir ihre Mission beendet haben.“
Was von Angela Madsens Leben bleibt? Für Debra Madsen ist es die Aufgabe, Menschen, die in einer Sackgasse stecken, zu sagen: Los geht’s, rafft euch auf, macht weiter. „Jeden Tag nehmen sich so viele Leute das Leben, gerade unter Soldaten und Veteranen, weil sie sich hoffnungslos fühlen, keinen Ausweg mehr sehen“, sagt sie. „Wenn du sie aus dieser Schleife rausbekommst, ist das eine starke Erfahrung. Und es macht auch unsere Gesellschaft stärker. Das sollte ihr Vermächtnis sein.“