Politik

Ein Wendepunkt für den Nahen Osten? | ABC-Z




Foto EPA, dpa, Reuters, Illustration Nina Hewelt




Assads Sturz

Ein Wendepunkt für den Nahen Osten?

Von Alexander Haneke (Text) und Jens Giesel, Claudia Bothe (Grafiken)
19. Dezember 2024



Innerhalb weniger Tage fiel Assads Herrschaft in Syrien in sich zusammen. Ob das Land nun zu Frieden und Stabilität findet, hängt auch von seinen Nachbarn ab. Für die Region bedeutet Assads Ende eine tiefe Umwälzung.






Bis Mitte November wirkten die Verhältnisse in Syrien weitgehend stabil. Gewaltherrscher Baschar al-Assad hatte das Kernland nach Jahren des Bürgerkriegs wieder unter seine Kontrolle gebracht und arbeitete stetig daran, die internationale Ächtung hinter sich zu lassen, die er durch sein brutales Vorgehen während des Aufstandes gegen ihn und der Jahre des Kriegs auf sich gezogen hatte.












Welch massive Umwälzungen das Jahr 2024 über den Nahen Osten gebracht hat, zeigt der Blick auf die gesamte Region.






Wie sich die Umwälzungen auf den Irak auswirken, muss sich noch zeigen. Während des Vormarsches der HTS hatte der schiitische Ministerpräsident Mohammed Shia al-Sudani noch von „gefährlichen Elementen“ gesprochen, die in Syrien Boden gewännen. Irantreue Gruppen in Sudanis Koalition setzten die Regierung unter Druck, aufseiten Assads in den Bürgerkrieg einzugreifen, was die allerdings nicht tat.  

Nach der Machtübernahme versicherte HTS-Chef Ahmad al-Scharaa (alias Abu Muhammad al-Golani) allen Nachbarn seine friedlichen Absichten. Doch in der von Teheran abhängigen Regierung in Bagdad misstraut man al-Scharaa, der als junger Dschihadist einst aufseiten von Al-Qaida im Irak gekämpft hatte.  




Die Türkei gilt als einer der großen Sieger der Umwälzungen in Syrien, wobei der Erfolg nicht so eindeutig ist. Ankara hat enge Verbindungen zur HTS-Miliz, die nun die starke Kraft im Land ist. Wie weit der Einfluss aber geht, ist unklar. Offenbar hatte die Türkei zwar von der geplanten Offensive der HTS gewusst, war aber skeptisch.  

Möglicherweise wäre Ankara ein geschwächtes Assad-Regime lieber gewesen als die neue Herrschaft der HTS, von der man noch nicht weiß, wie selbstbewusst und eigensinnig sie sich geben wird. Nach dem Fall von Damaskus gehörte die Türkei aber zu den ersten Gratulanten, schickte gleich am nächsten Tag Geheimdienstchef İbrahim Kalın zu Gesprächen in die syrische Hauptstadt und verkündete die Wiedereröffnung der seit 2012 geschlossenen Botschaft.  

Die türkische Syrienpolitik ist von zwei wesentlichen Faktoren geprägt: dem Kampf gegen die kurdischen Milizen im Norden Syriens, die der Terrororganisation PKK Rückzugsräume bieten.  

Und die Rückkehr der mehr als drei Millionen syrischen Flüchtlinge, die das Nachbarland aufgenommen hatte. Beide Ziele stehen in einem gewissen Spannungsverhältnis, da viele Flüchtlinge wohl nur zurückkehren werden, wenn die Lage in Syrien friedlich bleibt. Der größte Teil der in die Türkei geflohenen Syrer stammt aber aus dem Norden des Landes, in dem nun weitere Kämpfe zwischen türkeitreuen Milizen und den Kurden drohen. 




Sollten in Syrien aber stabile Verhältnisse wachsen, könnte das Nachbarland vor allem wirtschaftlich enorm profitieren. Der Norden Syriens, vor allem die Großstadt Aleppo, ist schon seit osmanischen Zeiten eng mit der Türkei verbunden. Diese Verflechtung wurde durch die vielen Syrer, die vor dem Bürgerkrieg ins Nachbarland flohen, weiter vertieft.  




Russland gehört zu den großen Verlierern der neuen Lage in Syrien. Schon die Symbolwirkung von Assads Sturz ist für den Kreml bitter, da der syrische Diktator der treuste Verbündete Moskaus in der Region war, den die russische Luftwaffe durch ihr Eingreifen in den syrischen Bürgerkrieg an der Macht gehalten hatte. Assad galt für Moskau stets auch als Beleg dafür, dass der Kreml seine Partner nicht fallen lässt (sondern mit aller Brutalität schützt).  

Strategisch sind für Russland jedoch vor allem die zwei großen Militärbasen auf syrischem Boden essenziell: Tartus, Moskaus einziger Marinehafen im Mittelmeer, und der Luftwaffenstützpunkt Hmeimim. Die militärische Präsenz in Syrien brachte dem Kreml schon den politischen Vorteil, dass Russland auch von den arabischen Nachbarn (und Israel) als wichtiger regionaler Akteur wahrgenommen wurde, den man entsprechend behandelte.  




Durch die zunehmende Aktivität russischer Söldnertruppen in Afrika kam Hmeimin zudem noch eine weitere strategische Bedeutung zu – als wichtiger Tankstopp für die Militärtransporter, die nur eine begrenzte Reichweite haben.  

Was aus den russischen Stützpunkten wird, muss sich noch zeigen. Zwar hatte die russische Luftwaffe aufseiten Assads die Rebellenhochburgen in Nordsyrien mit unerbittlicher Härte bombardiert. Doch es ist gut möglich, dass die neuen Herrscher von Damaskus trotz dieser blutigen Vergangenheit einen Konflikt mit Russland vermeiden wollen. Moskau wiederum hat traditionell kein Problem damit, sich mit nüchternem Kalkül auf neue Machthaber einzustellen.  




Folgenreich ist der Sturz Assads auch für die anderen Golfstaaten. Über viele Jahre war Syriens Machthaber wegen seines brutalen Vorgehens im Bürgerkrieg praktisch geächtet, während die Staaten mehr oder weniger offen die dschihadistischen Milizen gegen Assad unterstützten.  

Als es in den vergangenen Jahren so aussah, als habe Assad seine Herrschaft stabilisiert, setzten sich zwar die vermeintlichen Realisten durch. Syrien wurde 2023 wieder in die Arabische Liga aufgenommen. Vor allem die Skepsis wegen Assads Nähe zu Iran blieb aber groß.  

Sollten die Rebellen in Syrien eine stabile Herrschaft etablieren könnten, wäre das für die Golfstaaten ein großer strategischer Erfolg – wobei der Schwerpunkt auf der Stabilität der Herrschaft liegt. Denn den reichen Rohstoffproduzenten wäre vor allem an einer sicheren Landverbindung nach Europa gelegen.  

Ein zentrales Anliegen sind die Pläne, eine Erdgaspipeline nach Europa zu bauen, einem der lukrativsten Absatzmärkte der Welt. Bis 2022 dominierte Russland diesen Markt als größter Gaslieferant und betrieb mehrere Pipelines, darunter die beiden Nord-Stream-Leitungen mit einer Kapazität von jeweils 55 Milliarden Kubikmetern pro Jahr. 

Nennenswerte Konkurrenz existierte bisher nur durch die transanatolische Gaspipeline (Tanap). Seit 2018 leitet sie aserbaidschanisches Gas über die Türkei nach Europa. Ihre Kapazität von 16 Milliarden Kubikmetern jährlich bleibt jedoch vergleichsweise gering – Europas Bedarf liegt bei etwa 300 Milliarden cbm. 

Einer der größten Interessenten am Bau einer Erdgaspipeline nach Europa in dieser Region ist Qatar. Das Emirat verfügt laut OPEC über immense Erdgasreserven von 24 Billionen Kubikmetern – genug, um Europas aktuellen Bedarf für fast ein Jahrhundert zu decken. 

Derzeit werden die Erdgasexporte aus Qatar nach Europa jedoch ausschließlich auf dem Seeweg über Flüssiggas (LNG) abgewickelt. Dieser Transportweg ist jedoch deutlich energieintensiver und damit weniger lukrativ als über Pipelines. 

Daher gibt es schon seit Längerem verschiedene Pipeline-Szenarien. Eine mögliche Route könnte durch Saudi-Arabien und Syrien führen. Dieses Vorhaben scheiterte bislang am syrischen Bürgerkrieg und an der geopolitischen Lage. Wegen Assads Nähe zu Russland blockierte das Regime den Bau einer Pipeline, die Gas aus Qatar nach Europa transportiert hätte – ein Projekt, das russischen Interessen widersprochen hätte, weil Moskau sein Quasimonopol in Europa erhalten wollte, um Energie als geopolitisches Druckmittel einzusetzen.  




Sollte es den Rebellen gelingen, ihre neu erlangte Macht und ihre Kontrolle über das Land zu konsolidieren, könnte Qatar, das zu den größten Unterstützern der dschihadistischen Rebellen in Syrien gehört hatte, seine Pläne für eine Pipeline nach Europa wieder aufnehmen. 

Darüber hinaus gibt es die Arabische Gaspipeline, die von Ägypten nach Syrien führt. Ursprünglich war geplant, die Leitung bis in die Türkei zu verlängern und so Europa zu erreichen. Doch auch dieses Projekt stoppte der syrische Bürgerkrieg 2011. 

Eine Rückkehr zur Stabilität könnte Syrien also zu einem wichtigen Energieknotenpunkt machen.


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