„Ein Wärter, den wir Hitler nannten, quälte mich täglich“ | ABC-Z

Herr Anulia, Sie waren Kickbox-Champion in der Ukraine und den GUS-Staaten. Wie begann Ihre Laufbahn im Kampfsport?
Als Kind wurde ich von einem Abgeordneten angefahren. Mein Vater war außer sich – der Politiker sagte nur: „Sei froh, dass es kein Wolga war.“ (russisches Mittelklassemobil; d. Red.) Zur Erholung schickte mein Vater mich ans Meer. Ich kam verändert zurück. Im Zug sprach ein Soldat mit uns über Nahkampf und Militärdienst – das prägte mich tief. Mein Leben lang bin ich geschwommen, doch nach der Renovierung des Schwimmbads wurde es zu teuer. Kickboxen gab es direkt unter meinem Haus, also habe ich damit angefangen. Von 40 Anfängern blieben zwei. Ich kämpfte gegen Ältere, wurde Stadt- und Regionalmeister, beim ersten nationalen Turnier Platz vier. Danach trainierte ich bis zu viermal täglich – und gewann fast ein Jahrzehnt lang alles.
Aber mein Ziel war nie der Titel, sondern der Militärdienst. Ich wuchs mit Soldaten auf, las alles darüber – obwohl sie damals wenig Ansehen hatten. Mein Vater sagte nur: „Ein Dummkopf in der Familie reicht.“ Trotzdem sparte ich für die französische Fremdenlegion. Mit 20 heiratete ich und zog nach Belarus – zur Erleichterung meiner Familie. Doch als im Osten der Krieg begann und die Krim fiel, konnte ich nicht mehr zusehen.
Welche Rolle spielen ukrainische Athleten im Krieg?
Sie sind Schlüsselressource. Sportler sind körperlich und mental stark – ideal für Eliteeinheiten. Sie zeigen selten Schwäche, sind stressresistenter, lernen schneller und handeln im Team. Selbst im Schützengraben hilft ihnen der Sport, klar zu bleiben. Athleten bringen Disziplin, peripheres Sehen, und Loyalität – sie schützen nicht nur sich, sondern auch die Kameraden.
Erinnern Sie sich an Ihren letzten Kampf?
Mein letzter Profikampf war 2014. Ich gewann, aber innerlich war ich leer. In der Ukraine gab es für Sportler keine Perspektive – viele wurden von Politikern als Schläger missbraucht. Ich fiel in eine Depression und erkannte: Der Titel war nie mein Ziel. Ich sagte meinem Trainer, der Verträge in Tschechien vorbereitet hatte: „Ich höre auf. Wir erwarten ein Kind.“
Zwei Jahre später kehrte ich zurück – als Bodyguard. Vier Monate Auswahlverfahren, sieben Einheiten täglich. Als sie von meinem Kickbox-Hintergrund erfuhren, schickten mich die Ausbilder 2016 zu einem internen Wettkampf. Bis 2022 kämpfte ich weiter – nicht um Titel, sondern gegen starke Gegner, die neben ihrer Arbeit trainieren. Dort lernte ich: Wahre Stärke zeigt sich unter Druck. Es reichen ein paar Klimmzüge – ich trat an. Und siegte. Denn echte Stärke kommt von innen.
Erzählen Sie, wie Sie in Gefangenschaft gerieten. Können Sie die Situation beschreiben?
Ich wurde von einem Panzer verletzt, meine Kameraden starben. Zwölf Stunden versteckte ich mich, dann kroch ich weitere zwölf zur nächsten Ortschaft. Dort verriet mich eine Einheimische. Beim Fluchtversuch geriet ich in einen Hinterhalt – sie wollten mich erschießen. Sie stellten mich zur Erschießung auf, zwei Schüsse fielen nahe an meinem Kopf vorbei. Danach wurde ich gefangen genommen und zum Verhör gebracht.
Ein alter Kickbox-Gegner rettete Ihr Leben.
„Warst du nicht beim GUS-Cup im Kickboxen? Deinen Namen, Anulia, habe ich nie vergessen“, sagte er beim Wachdienst. Es war Frühjahr 2013 – er hatte damals gegen mich verloren. Ich dachte: Wenn das rauskommt, behandeln sie mich noch schlimmer. Doch er begann, mir zu helfen. Nachts lockerte er meine Fesseln und gab mir einmal in sechs Tagen Essen. Ich wollte nichts – ich wartete nur darauf, erschossen zu werden, wie andere.
Doch er sagte: „Hier wirst du nicht überleben. Ich bring dich nach Russland. Es wird hart, aber du bleibst am Leben.“ Ich glaubte ihm nicht. Am sechsten Tag, frühmorgens um fünf, kam ein gepanzerter Transporter. Er stieg mit ein. Irgendwo in der Provinz Brjansk hielten wir. Ich durfte kurz raus und fragte: „Warum hilfst du mir?“ Er sagte nur: „Weil es mir nicht egal ist, ob du lebst.“ Ich war nackt – er gab mir seine lange Unterhose. Sie war zu klein. Also zog er mir zwei übereinander an.
Wie ging es mit Ihnen weiter?
Ein Speznas-Mann (russische Eliteeinheit; d. Red.) erkannte mich, nannte nachts meinen Kampfnamen und fragte, wen ich in Russland kenne. Zwei Wochen später übermittelte er Grüße von Kickboxern – geholfen hat mir aber niemand. Er war respektvoll, aber misstrauisch. Meine Siege machten mich verdächtig. Andere Wachen hielten mich für gefährlich.
Jedes Mal begleiteten mich acht, neun Männer – als wäre ich Rambo. Dabei war ich abgemagert wie alle anderen. Oft dachte ich, ich überlebe das nicht. Im Kopf plante ich, wie ich im Ernstfall handeln müsste – nicht mit Technik, sondern effizient: Angriff auf Auge, Nase, Bein stellen, auf Fliesen stoßen. Kein Showkampf. Nur Überleben.
Sie wurden nach Russland gebracht.
Nach sechs Tagen wurde ich in einem Kamaz-Laster, zusammen mit Leichen und zwei anderen Gefangenen, über die Desna nach Russland gebracht, in ein Lager in Tjotkino, Oblast Kursk. Es war ein Konzentrationslager: Stacheldraht, Hunde, Maschinengewehre. Wir durften nur rennen, mit gesenkten Köpfen, Stirn an Hintern. Toilettengänge waren zeitlich reglementiert, Waschen verboten. Wir bekamen zwei Schlucke Wasser pro Tag. Um zu überleben, tranken wir unseren eigenen Urin. Wir entschieden, nur den Urin des Gesündesten zu trinken, um Krankheiten zu vermeiden. Es war der blanke Horror.
In Kursk musste ich dreieinhalb Stunden auf den Knien stehen, Zehen gespreizt – der Schmerz war unerträglich. Nachts hatte ich fünf Sekunden, um aus dem Zelt zu rennen und Bericht zu erstatten, sonst blieb ich kniend im Schnee. Ein Wärter, den wir „Hitler“ nannten, quälte mich täglich. In einem Krankenhauslager rissen sie mir zwei Zähne aus – angeblich für jeden getöteten Russen. Der Zahnarzt entschuldigte sich und gab mir die Zähne mit. Zurück im Lager wurde ich dafür verprügelt – weil er mir geholfen hatte.
In Gefangenschaft konnten Sie vermutlich keinen Sport treiben …
Ich nutzte unbeobachtete Momente zum Training: Liegestütze, Rumpfübungen, Atemkontrolle. Ich lief nicht, machte aber Tausende Kniebeugen, täglich mindestens 3500. Brust und Bauch stärkte ich gezielt, um Schläge abzufangen – auffällige Muskeln wie den Bizeps baute ich ab. Trotz gebrochener Rippen konnte ich dank Rumpfstabilität bis zu zwölf Stunden stehen.
Ich trainierte auch die Waden. Sie sind entscheidend für die Distanz zum Gegner. Schon fünf Zentimeter können die Schlagkraft eines Gegners brechen. Ein guter Schlag kommt aus Drehung und Fußstellung – der große Zeh muss auf den Gegner zeigen. Dieses Wissen bewahrte mich vor Verletzungen. Selbst gegen Hunger half Training. Ich atmete bewusst durch den offenen Mund, um ihn auszutrocknen – so wurde Hunger zu Durst. Trinken war dennoch unmöglich.
Ich machte Hunderte Kniebeugen, bis zur Erschöpfung. Irgendwann war es wie Trance – mein Körper schrie, aber ich musste stehen. Draußen beschleunigt Training den Stoffwechsel. In Isolationshaft versuchte ich das Gegenteil: runterfahren, Verdauung stoppen, Kalorien sparen. Das belastete die Organe – aber es war die einzige Überlebensstrategie.

Jeder hatte Angst. Mut bedeutet, sie zu überwinden. Auch ich wurde sexuell erniedrigt – bei den Kontrollen blieb niemand verschont. Ich blieb ruhig und versuchte, mich an die Weisheiten meines Vaters zu erinnern und stark zu bleiben, aber es war unausweichlich: Es gibt keine Helden, keine Marschälle – nur Überleben. Und das kostet alles.
Der wahre Kampf beginnt, wenn man glaubt, am Ende zu sein. Was wir für hundert Prozent halten, sind oft nur dreißig. Die restlichen siebzig Prozent lernt man erst in Extremsituationen freizusetzen – im Hochleistungssport oder bei Spezialeinheiten.
Mein Buch „Jingle Bellz“ erzählt davon – nicht nur von mir, sondern vom Menschsein am Limit. In Gefangenschaft dachte ich oft an echtes Glück: Kindheit. Mein Vater bügelte, meine Mutter backte, sonntags schauten wir Cartoons. Einfach – aber wir waren zusammen. Ich will zeigen: Hinter jedem Etikett steckt ein Mensch. Es geht nicht um Helden. Es geht darum, Mensch zu bleiben.
War die Begegnung mit dem russischen Soldaten, der Ihnen nach dem Wettkampf half, ein Symbol dafür, dass Russland nur Stärke respektiert – und Dialog oder ein Kriegsende nur aus einer Position der Dominanz möglich ist?
Russland respektiert nur Stärke. Sie folterten mich aus Sadismus, nicht um mich zu bändigen. Schwache wurden gebrochen und entmenschlicht, Stärke brachte Respekt. Das war eine bittere Erkenntnis. Im Westen gilt Stärke oft als primitiv, Schwäche als Zeichen von Intellekt. In Russland ist es umgekehrt – dort zählt körperliche und mentale Härte, fast archaisch. Selbst nach der Folter sagten sie: „Du bist stark.“ Männer respektieren Männer – besonders im Krieg.
2023, während unserer Gegenoffensive, war Russland verhandlungsbereit – solange wir Druck machten. Doch statt echter Hilfe kam PR: 70 Leopard-Panzer wurden versprochen, wenig kamen an. Mit genug Unterstützung hätte die russische Front kippen können – vielleicht sogar mit Gesprächen über die Krim. Wir kämpften damals aus Überzeugung. Wer hilft uns jetzt wirklich? Die Deutschen? Viele würden fliehen. Niemand verbündet sich mit den Schwachen. Nur Stärke bringt Respekt.

Ihre Erlebnisse sind dokumentiert. Wie sehen Sie die Verantwortung der internationalen Gemeinschaft?
Meine Aussagen wurden von anderen Gefangenen bestätigt und von internationalen Stellen, einschließlich der UN und einer deutschen Behörde für Kriegsverbrechen, verifiziert. Doch die Welt schaut weg. Europa und die USA lassen die Ukraine im Stich, wie Polen 1939. Ich habe alles verloren – meinen Vater, meine Gesundheit, meine Freunde. Und dennoch werden andere unsere Ressourcen ausbeuten. Wir brauchen Stärke, nicht Verhandlungen aus Schwäche. Russland respektiert nur Stärke.
Was denken Sie über die aktuellen Verhandlungen zwischen der Ukraine, Russland, den USA und in Istanbul? Muss die Ukraine heute auch ein Land mit mehr Ausdauer sein?
Die Ukraine ist heute in einer ähnlichen Lage wie ich damals. Ich dachte, es sei vorbei – doch es kamen noch acht Monate. So geht es vielen Soldaten heute: Sie glauben, sie hätten keine Kraft mehr. Viele ergeben sich aus Erschöpfung, ohne zu wissen, was kommt. Es erinnert mich an den Molotow-Ribbentrop-Pakt: Polen hoffte auf Hilfe, wurde aber verraten.
Heute warten wir auf Amerika – und erleben Ähnliches. Auf einer NATO-Basis fragte ich: „Könnt ihr nur Filme drehen? Wo habt ihr wirklich gekämpft?“ Schweigen. In Afghanistan ließen sie ihre Partner zurück. Die USA kämpfen nur, wenn der Gegner Sandalen trägt – gegen starke Gegner versagen sie. Das weiß Putin und nutzt es.
Europa muss eine eigene Stärke entwickeln.
Europa sollte wie ein Igel sein – freundlich, aber wehrhaft. Doch die Ukraine fühlt sich verraten. Man nennt uns „Faschisten“ oder „Söldner“, während die USA unsere Ressourcen nutzen und Europa zusieht. Mein Vater ist gefallen, mein Bruder gezeichnet, zahlreiche Freunde sind tot. Wer baut unser Land wieder auf? Rumänen? Deutsche? Amerikaner? Wir bleiben zurück. Viele Soldaten haben den Glauben an den Westen verloren und hoffen trotzdem weiter.
Europa wirkt seit 2014 zögerlich. Warum? Weil Worte wie „Völkermord“ Verantwortung bedeuten – und davor schrecken viele zurück. Politiker wirken wie Kinder in Erwachsenenkleidung. Dieser Krieg ist absurd: Amerikanische Schützenpanzer werden geliefert, zerstört, von Russen ausgestellt – und irgendwo stirbt ein Kind, weil es in die Luke fällt. Der Tod ist überall – nicht nur an der Front.
Welche Unterstützung haben Sie von Sportlerkollegen erhalten?
Die ukrainische Kickbox-Assoziation half mir mit Medikamenten, Ärzten und Lebensmitteln – sie rettete mir buchstäblich die Beine. Der Boxweltmeister Oleksandr Usyk finanzierte meine Operationen und lud mich nach Saudi-Arabien ein, um meine Geschichte zu erzählen. In Israel unterstützten mich Sportler und Marineinfanteristen bei der Reha, in Lettland organisierte ein Ex-Boxer meine Behandlung.
Sogar ehemalige russische Fallschirmjäger unterstützten mich bei einer Buchpräsentation – sie sahen in mir den Sportler, nicht den Feind. Ein Kickboxer und Unternehmer übernahm den Buchversand und finanzierte Reisen nach Warschau, Tallinn und Litauen. Der Sport verbindet uns – über alle Grenzen hinweg.
Wenn Sie eine Boxschule eröffnen würden – welche Werte würden Sie der jungen Generation vermitteln?
Ich will keine Champions formen, sondern Charakter. In der Gefangenschaft dachte ich oft an die Kinder gefallener Kameraden. Vielen fehlt eine männliche Bezugsperson. Sie wachsen ohne Väter auf und vermissen die männliche Energie, die ihre Persönlichkeit prägt. Dafür brauchen wir mehr männliche Trainer und Lehrer in Schulen. Ihnen würde ich Respekt lehren – besonders gegenüber Älteren.
Viele wachsen ohne Vaterfigur auf, werden aggressiv. Sport ist Erziehung: Anstand, Disziplin, Zusammenhalt. Nicht Medaillen zählen, sondern Haltung. Ich würde Kinder raus in die Natur bringen – als Gegengewicht zur digitalen Vereinsamung. Sport versöhnt nicht mit Feinden, stärkt aber Verbündete. Sport verbindet – selbst im Krieg.
Im Ring trägt man dieselben Shorts: Man erkennt, wir sind gleich. In Russland dagegen wird Abgrenzung gefördert. Viele ihrer Sportler sind mit Armee oder Geheimdienst vernetzt – unsere verweigern ihnen oft den Handschlag (bei internationalen Turnieren; d. Red.). Verständlich: Wer reicht jemandem die Hand, dessen Bruder Raketen auf unsere Kinder schießt?
Aber es gibt auch andere: Russen in der Diaspora, die mit Ukrainern trainieren und erkennen, dass wir keine Feinde sind. Zwei kämpften mit mir im Schützengraben. Heute sind sie Helden der Ukraine. Wir wuchsen mit denselben Cartoons und denselben Härten der Neunzigerjahre auf. Erst die Politik hat uns gespalten. Sport kann helfen, das zu heilen.