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Ein Verlag für die Vielfalt Europas: der Allee Verlag – München | ABC-Z

Die Grenze zu einer unbekannten Welt liegt nah, da ist sich der Schriftsteller Michal Ajvaz sicher. Wäre es zum Beispiel nicht möglich, dass plötzlich in Prag eine grüne Trambahn angefahren kommt und die einsteigenden Passagiere für immer in eine Parallelwelt transportiert? Wäre es nicht denkbar, dass aus einem Türchen auf der Karlsbrücke ein kleiner Elch springt, mit leuchtendem Geweih?

In Michal Ajvaz’ Roman „Die andere Stadt“ aus dem Jahr 1993, so surreal kafkaesk wie philosophisch tiefgründig, ist all dies möglich. Und die Verlegerin Veronika Siska, die den Roman endlich ins Deutsche übersetzt und veröffentlicht hat, findet das gar nicht mal abwegig. Es gebe doch tatsächlich Situationen im Leben, wo sich ein Spalt in der Wirklichkeit auftue, sagt sie. Vieles, was Ajvaz beschreibe, gebe es so, „bis auf die Elche – aber wer weiß?“ Sie lacht.

Veronika Siska liebt die Bücher von Michal Ajvaz, dessen Werke in Tschechien mit dem Staatspreis für Literatur geehrt und in 24 Sprachen übersetzt wurden; „Die andere Stadt“ wurde sogar als Oper vertont. Als Übersetzerin hat sie den Roman mindestens 30 Mal gelesen und findet immer noch neue Aspekte darin: „Es ist ein Buch, das einen das ganze Leben begleiten kann.“ Und das tut es in diesem Fall tatsächlich: Denn dieses Buch war der Anlass, der Veronika Siska auch zur Verlegerin gemacht hat.

Er löste die Verlagsgründung aus: der tschechische Schriftsteller Michal Ajvaz. (Foto: David Konecny)

Ob die Gründung eines Verlags in diesen Zeiten von Mut oder Übermut zeugt? Siska ist jedenfalls elchgleich ins Ungewisse gesprungen: Seit diesem Herbst ist ihr Allee Verlag mit zwei Büchern sichtbar und auch bei der Frankfurter Buchmesse präsent. Mit dem von ihr übersetzten Roman von Altmeister Ajvaz – und mit dem von Hanna Granz übersetzten Debüt des jungen Autors Mattias Timander, der in Schweden zur ethnischen Minderheit der Tornedaler gehört. Kein Zweifel: Die Bücher sind Programm.

Denn der Allee Verlag soll „für die Idee eines vielfältigen Europas“ stehen, wie Siska sagt. Sie will literarische Stimmen aus ganz Europa sichtbar machen, „deren Sprachen und Perspektiven im deutschsprachigen Raum unterrepräsentiert sind“. Es geht ihr also nicht um ohnehin häufige Übersetzungen aus dem Englischen oder Italienischen, sondern aus dem Tschechischen, dem Isländischen, Rumänischen.

In Ost-West-Kategorien denkt sie dabei nicht: „Wir wachsen zusammen“, davon ist sie überzeugt. Angesichts wachsender Bedrohungen würden derzeit ja viele Menschen aufwachen und neu über Europa nachdenken. „Manche sehen es als Festung Europa“, sagt sie, „ich sehe eher den Humanismus als europäischen Gedanken.“ Die Themen, die grenzübergreifend Europas Realität prägen, sollen sich auch in den Büchern spiegeln: das Problem der Arbeitsmigration zum Beispiel, Prekariat, Minderheiten.

Mattias Timander gehört zur ethnischen Minderheit der Tornedaler in Nordschweden. In seinem Debüt „Dein Wille wohnt in den Wäldern“ setzt er sich mit seiner Herkunft auseinander.
Mattias Timander gehört zur ethnischen Minderheit der Tornedaler in Nordschweden. In seinem Debüt „Dein Wille wohnt in den Wäldern“ setzt er sich mit seiner Herkunft auseinander. (Foto: Sofia Runarsdotter)

Zwei Bücher pro Jahr sind geplant, jeweils ein tschechisches und eines aus einer anderen Sprache. Das tschechische wird zunächst stets ein Roman von Michal Ajvaz sein; am Ende soll sein literarisches Werk – er schreibt gerade am zehnten Buch – als Reihe in einem schwarzen Schuber im Regal stehen. Und man ahnt es schon: Es hat tiefere Gründe, dass sein Werk im Zentrum des Verlags steht.

Zunächst einmal ist Veronika Siska selbst stark mit Tschechien verbunden, sie wurde 1976 in Prag geboren. Ihre Eltern, die in der katholischen Untergrund-Kirche aktiv waren und eine „Atmosphäre der Angst“ kannten, beschlossen 1984 zu emigrieren: Da sie nicht in die Kommunistische Partei eintreten wollten, wussten sie, dass ihre Kinder nicht würden studieren können. So aber wuchs Veronika Siska zweisprachig in München auf, studierte Romanistik, Germanistik und Slawistik, arbeitete als Lexikonredakteurin und seit vielen Jahren als Lektorin, Übersetzerin und Kulturvermittlerin.

Bereits im Studium stieß sie auf Ajvaz, ein bekannter Name mit schillernder Vita: Als promovierter Philosoph hatte er sich im Sozialismus nicht vereinnahmen lassen wollen, er arbeitete stattdessen als Hausmeister, lebte auch mal als Pumpenwart in einem Wohnwagen im Wald und las nebenbei Jacques Derrida. „Er war in der inneren Emigration“, sagt Siska, „vielleicht verstehen wir uns deshalb so gut.“ Mit dem Fall des Eisernen Vorhangs 1989 fing für ihn ein neues Leben an: Der inzwischen ältere Herr, der sich mit Parallelwelten bestens auskennt, ist seither im Schreib-Flow.

Warum das Interesse für diesen Autor nun aber in eine Verlagsgründung mündete? Zunächst einmal hatte Siska sich nur gefragt: „Warum gibt es den nicht auf Deutsch?“ Im Laufe der Jahre lernte sie noch mehr Übersetzerinnen und Übersetzer kennen, die von tollen Texten schwärmten, die kein Verlag haben wollte. Sie versuchte es ja, sprach mit der Agentin von Ajvaz, kontaktierte Verlage und Lektoren. Keiner griff zu: „Es war wirklich wie verhext.“

In ihr wuchs ein Plan, denn sie fand: „Es geht nicht, dass die deutschsprachige Welt nichts von Ajvaz weiß.“ Nach ihrem Entschluss bereitete Veronika Siska die Verlagsgründung jahrelang vor. Sie organisierte kleine Lesereihen und lernte dabei viel über „schreckliche Finanzpläne“, sie fand ein Pressebüro und eine professionelle Auslieferung – und ein Netzwerk aus vielen Übersetzerinnen und Übersetzern, „die mich beraten und die mir Bücher bringen“. Ansonsten macht sie alles selbst: „Ich habe zwei Vollzeit-Jobs, das Übersetzen und den Verlag.“

Wie sich der Verlag finanziert? „Durch meine eigene Arbeit“, sagt Siska, indem sie etwa einen Teil der Bücher selbst übersetze. Fördergelder spielen eine große Rolle, für Übersetzungen und Lese-Touren; dass im nächsten Jahr Tschechien das Gastland der Frankfurter Buchmesse ist, eröffnet auch manche Möglichkeit. Und Siska ist sparsam, sie arbeitet etwa im Home-Office, auch wenn sie als Verlagsadresse die Buchhandlung Kubula im Münchner Lehel nennt. Reicht das, um die Kosten von Lizenzen, anderen Übersetzungen und Druck zu stemmen – und etwas übrigzubehalten? „Die Bücher müssen sich verkaufen, daran führt kein Weg vorbei“, sagt Siska, „sonst habe ich kein Geld für neue Projekte.“

Was Ajvaz betrifft, scheint ihr Plan aufzugehen. Sie ist mit einer Auflage von 1000 Exemplaren an den Start gegangen und sieht jetzt schon: „Das war die richtige Entscheidung.“ Das Buch verkauft sich, der gute Ruf des Autors war schon über die Grenze gehallt. Und doch bleibt noch viel zu tun. In die Barsortimente (also den Buchgroßhandel)  müsse sie unbedingt noch hinein, sagt Siska, der Handel sei die nächste Hürde. Im Übrigen kann man die Bücher auch über ihre Verlags-Webseite bestellen.

Dass es nicht einfach ist, als Verlag in einer Nische sichtbar zu sein, ist nichts Neues. Es kann aber auch funktionieren – wie etwa bei Sebastian Guggolz, gerade zum neuen Vorsteher des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels gewählt. Auch im Guggolz Verlag erscheinen Bücher aus ganz Europa; es sind in seinem Fall Klassiker, während sich Siska den lebenden Autoren zuwendet. Ob Guggolz, der die Nöte kleiner Verlage kennt, etwas in Gang bringen kann, etwa eine strukturelle Verlagsförderung? „Schön wär’s natürlich“, sagt Siska. Bei Verlagspreisen, derzeit die gängige Form der Förderung, könne man sich eben auf nichts verlassen.

Siska hat sich noch nicht für einen beworben, das wird noch kommen. Sie denkt ohnehin langfristig: „Ich gebe mir eigentlich bis zur Rente“, sagt die Verlegerin, die im kommenden Jahr 50 wird, „man muss einen langen Atem haben.“ Den braucht man ja auch, wenn man durch eine lange Allee läuft. Bei der Namenswahl dachte Siska jedenfalls an das „Lesen als Spaziergang durch eine Allee – wo man auch irgendwo ankommt, bei einer Erkenntnis“.

Der Weg allein ist also nicht das Ziel; wer wie Veronika Siska einen Verlag gründet, wird sich damit nicht begnügen können. Und vielleicht höchstens dann mal nachdenklich werden, wenn eine grüne Trambahn am Straßenrand hält. Denn falls sie in eine verlockende Parallelwelt mit springenden Elchen führt – wer weiß?

Verlags-Release mit Doppel-Lesung von Michal Ajvaz und Mattias Timander, Donnerstag, 13. November, München, Buchhandlung Kubula, Thierschstraße 19

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