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Ein neues Buch geht dem Einfluss der Guillotine nach | ABC-Z

Kaum jemand wollte die Hinrichtungen verpassen. Mit eleganten Operngläsern lief man zur Pariser Place de Grève. Wer seine Gläser vergessen hatte, konnte vor Ort welche mieten. Oder eine Miniguillotine als Ohrschmuck erwerben. Oder eine Spielzeugguillotine mit passender Puppe, die man köpfen konnte. Seitdem im April 1792 die erste Hinrichtung an der Place de Grève stattgefunden hatte und, wie eine Zeitung schrieb, ein Krimineller zum „Objekt des melancholischen Experiments“ geworden war, war der Tod in Paris allgegenwärtig.

„Vive la Mort!“ – „Es lebe der Tod“ rief man in den Straßen. Der Chronist und Pornograph Rétif de la Bretonne hat in einem monumentalen Werk eindrücklich wie kein zweiter davon berichtet, während die Henker und ihr Gerät immer effizienter wurden. Bereits im Juni 1794 konnten sie in nur 28 Minuten um die 50 Menschen enthaupten.

Ein abgeschnittener Kopf als Fragment

Schnell war die Guillotine zum Symbol der Revolution oder der Tyrannei geworden. Für den ungarischen Literaturkritiker und Kunsttheoretiker László Földényi, 2020 ausgezeichnet mit dem Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung, symbolisiert sie mehr als alles andere den Beginn einer neuen Zeitrechnung. In seinem kürzlich erschienenen Buch „Der lange Schatten der Guillotine“ ist sie Auftakt wie Symbol für das Fragmentarische von Modernität schlechthin. Er liefert eine vibrierende Erzählung des 19. Jahrhunderts, in der das Zertrennende des Fallbeils in allen gesellschaftlichen Bereichen einen Widerhall findet. Überall wird das „Ideal eines Ganzen“ abgeräumt.

Von den abgeschnittenen Köpfen und der alle beschäftigenden Frage, was ein abgeschnittener Kopf überhaupt noch wahrnehme, wodurch der Mensch ein Mensch sei und wann genau nicht mehr, war es nicht weit zur Frage nach dem Verhältnis von Geist und Materie, von physischer und moralischer Welt. Zwischen Mordmaschine, Dampfmaschine und Nähmaschine wurde die metaphysische Verlassenheit des Menschen zur Gewissheit. Der Befund einer Fragmentierung der modernen Lebenswelt ist kein neuer. Aber Földényis Blick, seine Collage aus Bildanalysen, Henkersgeschichten, Zeitungsannoncen und Gedichten, ist bestechend.

Dieser Text stammt aus der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung.



Da sind etwa die abgeschnittenen Köpfe in Théodore Géricaults Gemälden. Was könnte fragmentarischer sein, fragt Földényi, als ein abgeschnittener Kopf? „Er gehört nirgendwohin mehr – er hat keine Moral, keine Weltanschauung, keine Religion, keine Überzeugung. Er ist einfach.“ Géricault löste die Köpfe aus jedem Kontext heraus. Das war neu. Für die Arbeit an seinem Meisterwerk „Das Floß der Medusa“ hatte er einen Kopf aus dem Bicêtre, wo die Guillotinierten aufbewahrt wurden, in sein Atelier geschmuggelt.

„Jetzt haben Zivilisation und Polizeipräfekt den Zufall verjagt“

Die Pariser Fotografien von Charles Marville hingegen zeigen gar keine Menschen. Höchstens ihre Schatten, was an der langen Belichtungszeit lag – für Földényi auch eine Art von Exekution. Durchschnitten, zergliedert wurde auch die Stadt Paris selbst. Napoleon III. beauftragte Mitte des Jahrhunderts Haussmann mit dem Abriss ganzer Stadtteile. Boulevards durchtrennten fortan die Viertel, das verwinkelte, dunkle Paris mit seinen Gassen und seinem Dreck, vor allem jenes der Bohème, musste weichen. „Das alte Paris ist nicht mehr“, schrieb Baudelaire trauernd. Ganze zwanzig Prozent der Pariser verloren ihre Wohnung, 100.000 neue Gebäude entstanden. Émile Zola dokumentierte im Roman „Die Beute“ die wohl erste große Gentrifizierung. Földényi erkennt in Haussmann und Napoleon III. die ersten beiden Futuristen und damit die eigentlichen Vorläufer Marinettis.

Die neue Urbanität wurde als gleichförmig und monoton wahrgenommen. Flauberts und Stendhals Figuren thematisieren, unabhängig voneinander, die neue seelentötende Langeweile. Auch für die Avantgarden des 20. Jahrhunderts ist die Langeweile ein zentrales Movens. „Jetzt haben Zivilisation und Polizeipräfekt den Zufall verjagt; es gibt nichts Unerwartetes mehr“, sagt Mathilde in „Rot und Schwarz“. Aber der Kult der Vernunft, schreibt Földényi, führte nicht nur zur Guillotine, sondern auch zur Popularität von Monstern und menschwerdenden Maschinen, siehe Mary Shelley oder Jules Verne.

Und während die Menschen tagsüber vor Angst, Zerrissenheit und Überforderung flohen, so Földényi, triumphierte in den Theatern die Sünde und der denkbar krasseste Sadismus. König Ubu, Hydropathen (sie tranken ausschließlich Alkohol) und Fumisten (sie waren Meister des Verunglimpfens) betraten die Bühne, ihr ironischer Ruf war: „Passant, sei modern!“

Oberster Henker entwickelte Blutphobie

Gegen Ende seiner brillant assoziierten Geschichten zitiert Földényi noch einmal Baudelaire. Der Fortschritt habe den Schmerz in dem Maße vervollkommnet, in dem er die Lust verfeinert habe. Das mag auch seine eigene Sicht sein. Dass die Kopflosigkeit der Moderne sich fortsetzt in einer Transformation des Menschen im Zeitalter der Künstlichen Intelligenz, deutet er öfter an.

Obwohl die Guillotine in Frankreich noch bis 1977 eingesetzt wurde, fand die letzte öffentliche Hinrichtung 1939 in Versailles statt. Fünf Monate vorher war der „verhassteste Mann Frankreichs“, der oberste Henker württembergischer Abstammung namens Deibler, gestorben. Seine Art, die Guillotine zu bedienen, war ungewöhnlich, sadistisch, führte er die Hinrichtungen doch extrem langsam durch. Földényi fand in der „New York Times“ einen Nachruf auf ihn: „Er sah wie ein einfaches Mitglied der Mittelschicht aus, das stolz auf seine Arbeit war.“ Nach circa 400 Hinrichtungen jedoch hatte er überraschend eine Blutphobie entwickelt.

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