News

Ein Jahr Draghi-Report: Wie steht es um Europas Wettbewerbsfähigkeit? | ABC-Z


analyse

Stand: 09.09.2025 08:40 Uhr

Vor einem Jahr rüttelte der frühere EZB-Chef Draghi Europa auf: 800 Milliarden Euro jährlich an Investitionen seien nötig, um von den USA und China nicht abgehängt zu werden. Was wurde daraus?

Von Christian Feld und Jean-Marie Magro, ARD-Studio Brüssel 

Geschrieben. Geliefert. Vergessen. Das ist das traurige Schicksal, das vielen Berichten und Ratschlägen widerfährt, die in der Welt der Europäischen Union entstehen. Mit dem Draghi-Bericht ist das anders. Dabei ist sein Titel sperrig: “Die Zukunft der europäischen Wettbewerbsfähigkeit – Eine Wettbewerbsstrategie für Europa.” Und das auf gut 400 Seiten. 

Übergeben hatte Draghi den Bericht vor einem Jahr an die EU-Kommissionspräsidentin – und kaum eine europapolitische Diskussion komme ohne Bezug dazu aus, sagt der VWL-Professor Henning Vöpel, Vorstand des Centrums für Europäische Politik: “Man sieht doch, dass die Politik von Ursula von der Leyen programmatisch sehr dicht an dem ist, was der Draghi-Report empfiehlt und analysiert hat.”

800 Milliarden Euro gegen das “langsame Sterben”

Der Draghi-Report erschien vor dem Hintergrund mehrerer Krisen. Steigende Energiepreise, Krieg in der Ukraine, die Klimakrise und eine zweite Amtszeit von Donald Trump im Weißen Haus am Horizont. Um weiterhin wettbewerbsfähig zu bleiben, müssten sämtliche Wirtschaftszweige dekarbonisiert, also von fossilen Brennstoffen auf nachhaltige Energiequellen umgestellt, und digitalisiert werden.

Dafür seien erhebliche Investitionen notwendig, so Draghi – überwiegend von privater Seite. Von 2025 bis 2030 rechnet der ehemalige EZB-Chef mit 800 Milliarden Euro für die gesamte EU. Und zwar jährlich. Ansonsten drohe ein “langsames Sterben”. 

“Bisherige Wirkung eher enttäuschend”

Europas strukturelle Schwäche sei die mangelnde Koordination zwischen den Mitgliedsstaaten bei Investitionen, sagt Joseph Dellatte, Energieökonom der Denkfabrik Institut Montaigne. “Wir brauchen in Europa einen Geist der Zusammenarbeit, nicht des Wettbewerbs untereinander.” Sollten die Europäer nicht damit anfangen, eine gemeinsame Wettbewerbspolitik voranzutreiben, drohen sie zwischen den beiden großen Blöcken der Weltpolitik zerrieben zu werden: den Vereinigten Staaten und China. 

Die dringliche Mahnung des Berichts, sich besser untereinander abzustimmen und gemeinsam zu handeln, findet bisher aber kaum Niederschlag. “Die bisherige Wirkung ist eher enttäuschend”, konstatiert der Europaabgeordnete Andreas Schwab, der für die CDU im Ausschuss für Verbraucherschutz und Binnenmarkt sitzt. 

Steht sich Europa selbst im Weg?

Draghi stellt die EU vor mehrere strategische Fragen: Möchte sie Branchen wie die Stahlindustrie, die in den vergangenen Jahren gelitten hat, schützen? Oder soll Europa im Rahmen der Auf- und Nachrüstung auf chinesischen Stahl angewiesen sein? Um die heimische Industrie zu erhalten, wäre jedoch eine aktivere, teils abschottende Industriepolitik notwendig, sagt Dellatte. 

Ein weiteres Problem sei, dass die EU-Kommission immer wieder transeuropäische Fusionen und damit europäische Champions verhindert habe, sagt der französische Ökonom Antonin Bergeaud von der HEC Paris. Eines der bekanntesten Beispiele dafür ist die gescheiterte Fusion von Alstom und Siemens. Derlei Übernahmen wurden oft untersagt, weil eine Monopolstellung befürchtet wurde. 

Gerade Mario Draghi wünscht sich mehr europäische Champions. Doch auch die Mitgliedsstaaten verhinderten diese, weil sie sich darüber streiten, “wer mehr von der Bettdecke bekommt”, beobachtet Bergeaud. Jüngstes Beispiel ist der Übernahmeversuch der Commerzbank durch die italienische Unicredit. Das italienische Bankhaus stößt auf Widerstände, auch die Bundesregierung wies mehrmals öffentlich darauf hin, es nicht zu unterstützen. 

Kapital fließt häufig in die USA

Der EU-Binnenmarkt bleibt weiterhin unvollendet. In seinem Bericht fordert Draghi, eine Kapitalmarktunion zu schaffen. Die Europäer seien mit über 20 Billionen Euro Weltmeister in der Disziplin des Sparens, sagt der Pariser Ökonom Antonin Bergeaud. Und vom wenigen Geld, dass sie riskant anlegen, geht ein signifikanter Anteil in die USA.  

Das Ziel der Kapitalmarktunion ist es, Geld für Investitionen nach Europa zu holen. Auch hier sieht CDU-Mann Schwab nur wenig Fortschritt. Es sei ohne Zweifel kompliziert, weil jedes Land seine eigenen Börsen und Kapitalmärkte habe, aber: “Wenn wir es nicht zusammenziehen, werden wir in Europa ganz viele Investitionen nicht bekommen, die heute halt in den USA laufen.”

Die EU-Kommission nennt ihr Vorhaben “Spar- und Investitionsunion”. Die Anleger sollen ihre Ersparnisse besser in europäische Unternehmen investieren, damit neue Jobs, Technologien und Klimaprojekte finanziert werden können. 

“Wirtschaftspolitik in der Krise sehr national gedacht”

Doch wenn es konkret wird, stößt ein gemeinsames europäisches Vorgehen oft an seine Grenzen. Henning Vöpel vom Centrum für Europäische Politik erkennt bei Mario Draghi auch Enttäuschung: “Er hatte für seinen Bericht die Vision, dass wir europäisch denken. Er muss jetzt vielleicht feststellen, dass Wirtschaftspolitik gerade in Zeiten der Krise doch sehr national gedacht wird.”  

Der Draghi-Report sei ein “Elektroschock” für Europa gewesen, sagt die Vorsitzende der Renew-Fraktion im Europaparlament Valérie Hayer. Die EU werde bereits abgehängt und brauche nun eine gewaltige Kraftanstrengung, um den Rückstand auf die USA und China aufzuholen.

In puncto Produktivität und Wirtschaftswachstum wird der Abstand zu den Vereinigten Staaten seit den 1980er-Jahren immer größer. Der Bericht des Italieners hat das erkannt und auf die Tagesordnung gehoben. Ein Jahr später hat sich an der Analyse nichts geändert. Nur bleiben die großen Taten der Europäer noch aus.

Draghi selbst sagte kürzlich bei einer seiner wenigen öffentlichen Auftritte, die EU habe jahrelang die Auffassung vertreten, ihr Markt mit 450 Millionen Verbrauchern sei gleichbedeutend mit Macht und Einfluss: “Dieses Jahr wird als das Jahr in Erinnerung bleiben, in dem diese Illusion zerplatzte.” Es sei nun Zeit, sich von einem Zuschauer zu einem Protagonisten zu entwickeln. 

Back to top button