Ein Arzt fragt sich: Welches Standing haben Familien in unserer Gesellschaft? |ABC-Z

Ich habe in meinem Berufsleben schon viele Dinge erlebt und gesehen, aber es gibt trotzdem immer wieder Situationen und Gespräche, die mir sehr lange in Erinnerung bleiben und an die ich auch außerhalb der Praxis immer wieder denken muss.
Letzte Woche habe ich wieder eines dieser Gespräche erlebt: Eine junge Frau kam zu mir in die Sprechstunde. Sie war ziemlich aufgelöst und hilflos. Sie hat zwei Kinder, eines davon eine Tochter im Grundschulalter. Meine Patientin erzählt mir, dass ihre Tochter schon länger psychische Auffälligkeiten zeigt, sich das jetzt aber immer mehr zuspitzt. Die Tochter gehe in die Grundschule, der kleine Bruder in die Kita.
Je mehr die Patientin erzählt, umso mehr fängt sie an zu weinen. Völlig zusammen bricht sie, als sie mir erzählt, dass ihre Tochter immer wieder davon berichtet, Phantasien zu haben, in denen sie ihrem kleinen Bruder etwas antut. Unter diesen Gedanken leide ihre Tochter sehr. Ihr sei bewusst, wie schlimm das sei.
Früher waren junge Familien nicht auf sich allein gestellt
Die Mutter war verzweifelt. Ich gestehe: Ich bin selten sprachlos – das war aber ein solcher Moment. Ich kenne und begleite die Familie seit Jahren, zumindest die Erwachsenen. Beide Eltern sind, soweit ich das beurteilen kann, engagiert, lieben ihre Kinder und sind besorgt um ihr Wohl. Beide sind im Beruf anerkannt, gut im Ort vernetzt und eingebunden. Eigentlich eine perfekte junge Familie.
Die Situation dieser Familie ist, Gott sei Dank, nicht die Regel, wirft aber aus meiner Sicht ein Schlaglicht auf die Situation der Familien heute. Ich bin in einer Zeit groß geworden, da war es ziemlich „normal“, Kinder zu haben oder zu bekommen – vor allem war das kein „Projekt“.
Das damalige Umfeld, Freunde, Nachbarn, Tanten und andere Verwandte kümmerten sich mit um die Kinder und mischten sich natürlich auch mal in die Erziehung ein. Kinder in der Gemeinschaft zu erziehen, das war normal und sicher ab und zu auch mal nervig. Aber es hatte auch sehr viele Vorteile: Eine junge Familie war nicht immer auf sich allein gestellt.
Ich erlebe heute, dass Eltern, gerade die bemühten, sich immer mehr alleingelassen fühlen und sieben Tage die Woche mit ihren Kindern beschäftigt sind – vor allem damit, sie zu beschützen und alles in richtige Bahnen zu lenken.
Welches Standing haben Familien in der Gesellschaft?
Verstehen Sie mich nicht falsch: Ich weiß, Eltern sind schnell genervt, wenn die Kassiererin, die Nachbarin oder der Bäcker sich einmischen oder es kommentieren, wenn ein Kind schreit, motzt oder sonst in der Öffentlichkeit auffällt. Das ist verständlich, und manche Kommentare könnten die Menschen sich sparen, aber auf der anderen Seite: Kinder sind unsere wichtigste Ressource. Die Gesellschaft soll sich für sie interessieren.
Ich finde es erschreckend, wie viele Adults-only-Spa-Bereiche es mittlerweile gibt. Was gibt das jungen Familien und Kindern für ein Gefühl? Welches Standing haben sie in der Gesellschaft, wie alleingelassen müssen sie sich manchmal fühlen? Ich finde, die Gesellschaft schaut bei Familien zu wenig hin. So haben wir nicht nur eine Krise unter den Familien, sondern auch in der Gesellschaft.
Aber zurück zu der jungen Mutter, die vor mir saß. Das ist natürlich ein besonders harter und schwieriger Fall. Ich habe der Mutter ein paar Adressen gegeben – von Expertinnen, Psychologinnen sowie Kindermedizinern –, die ihr vielleicht helfen können. Ich habe ihr ans Herz gelegt, dringend zu handeln, auch um den Rest der Familie zu entlasten. Mein Mitgefühl gilt dieser Familie, die wirklich in besonderer Not ist.
Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, wünsche ich von Herzen eine gute Woche und genügend Zeit für Ihre Familie. – Ihr Landarzt