Kultur

Der Westen hat nie richtig „eins in die Fresse gekriegt“ | ABC-Z

Eine Zeitenwende – auch für Westeuropas Intellektuelle – forderte der deutsche Schriftsteller Marko Martin auf dem Internationalen Literaturfestival Odessa, das von der Fondation Jan Michalski, der Stiftung für deutsch-polnische Zusammenarbeit (SdpZ) sowie den Nationalen Kulturinstituten der Europäischen Union gefördert wird.

Martin eröffnete das Festival, das Ulrich Schreiber und Hans Ruprecht vor zehn Jahren gegründet hatten – angesichts der russischen Krim-Annexion – und das seit Russlands Invasion in der Ukraine in einem ihrer Nachbarländer stattfindet, diesmal im Potocki-Palast von Krakau. Martin hielt eine Philippika gegen den Hochmut der denkenden Klasse im Westen, der sich seiner Diagnose nach dadurch erklärt, dass ihre Vertreter noch nie richtig „eins in die Fresse gekriegt“ hätten.

Zwanzig Schriftsteller aus dreizehn Ländern in Krakau

So hatte einst der polnische Literaturnobelpreisträger Czesław Miłosz den Unterschied zwischen westlichen und östlichen Intellektuellen definiert. Miłosz, der aus dem kommunistischen Polen nach Frankreich geflohen war, beschrieb so die Differenz zwischen dem liberal prosperierenden Nachkriegswesten und Europas Osten, wo Bevölkerungsgruppen deportiert, das Geistesleben gleichgeschaltet und Intellektuelle verfolgt wurden. Putins Angriffskrieg gegen die Ukraine und zumal deren Verrat durch den US-Präsidenten Trump zeigten, dass die ukrainische Armee, zu der etliche Intellektuelle wie der Soldat gewordene Autor Serhij Zhadan gehören, auch dafür kämpften, dass die Leute im Westen auch weiterhin nicht richtig „eins in die Fresse“ kriegten.

Er eröffnete das Literaturfestival: Schriftsteller Marko MartinPicture Alliance

Martin erinnerte daran, wie Jürgen Habermas 1989 paternalistisch von der „nachholenden Revolution“ in Mitteleuropa sprach, wo Demokratie und Marktwirtschaft erst entwickelt werden mussten. Inzwischen sei aber klar, dass der Osten dem Westen in etwas Wichtigem voraus sei: in dem Wissen um die stete Gefahr der Barbarei, der aktiv widerstanden werden muss. Weshalb der ukrainische Philosoph Anatolij Yermolenko aus dem bombardierten Kiew dem von ihm verehrten Habermas geschrieben habe, zivile Gesellschaften müssten wehrbereit sein, denn Zögern gegenüber Aggressoren bringe keinesfalls Frieden, sondern nur weitere Kriege.

Zwanzig Schriftsteller aus dreizehn Ländern diskutierten in Krakau. Am dritten Jahrestag des Beginns des russischen Einmarsches wurden einige der rund 200 getöteten ukrainischen Dichter mit Lesungen gewürdigt. Der Ukrainer Juri Andruchowytsch erinnerte an den punkigen Maksym Krywzow, der wegen seines extravaganten Schnurrbarts den Kampfnamen „Dalí“ trug und der nach zehn Jahren freiwilligen Armeediensts im Januar 2024 fiel. Krywzows Gedicht „Ich kehre um!“ kontrastiert das Versprechen des lyrischen Ichs, wieder zu Hause Käsekuchen zu backen, mit den gefährlichen Sümpfen, die ihn am Einsatzort umgaben.

Verteidigung der russischen Sprache

Sein Landsmann Andrej Kurkow las Verse von Wolodymyr Wakulenko, der 2022 im besetzten Isjum, an das ihn sein kranker Sohn band, möglicherweise nach einer Denunziation aus der russischsprachigen Nachbarschaft von Russen erschossen wurde. Kurkow, dessen Muttersprache Russisch ist, bekannte sich als „schwarzer Optimist“ im Glauben den an den Sieg der Ukra­ine – wobei der Sieg darin bestehen würde, dass das Land seine Souveränität bewahrt und EU-Mitglied wird.

Jahrhundertelang hätten Russlands Herrscher die ukrainische Kultur unterdrückt, Zar Peter der Große verbot nach seinem Sieg bei Poltawa als Erstes ukrainische Bücher, so Kurkow. Infolgedessen entwickelte sich die Sprache kaum, wissenschaftliche und medizinische Termini hätten neu gebildet werden müssen. Doch Ukrainisch sei heute auch im Osten des Landes in Mode. In den besetzten Gebieten müssten die Menschen Filtrationslager durchlaufen, Sympathisanten für die Ukraine drohte Gefängnis oder Tod, die Übrigen würden häufig in die russische Provinz umgesiedelt, um sie zu russifizieren.

Etliche Festivalteilnehmer fühlten sich durch den ideologischen Schulterschluss Trumps mit Putin an den Molotow-Ribbentrop-Pakt erinnert, etwa der 78 Jahre alte polnische Publizist und ehemalige Dissident Adam Michnik, der in kommunistischer Zeit mehrfach im Gefängnis saß. In unberechenbar volatilen Situationen wie der heutigen solle man handeln, als gäbe es Gott nicht, ethisch anständig, riet Michnik. Ein anderer früherer Dissident, der litauische Dichter Tomas Venclova, rezitierte sein Gedicht über das Ende eines Diktators – es ging um Ceaușescu, die Festivalgäste wollten es freilich auf Putin beziehen. Der 87 Jahr alte Venclova, der Achmatowa, Pasternak und Brodsky gekannt hat, verteidigte zugleich die russische Sprache und Literatur gegen den Vorwurf, sie transportiere nur imperiale Unterdrückung.

Die Polen verstünden die Signale besser

Puschkins lyrische Rechtfertigung der Niederschlagung des Polenaufstandes, Brodskys Schmähgedicht auf die unabhängige Ukraine seien verzeihlich angesichts ihres Gesamtwerks. Doch gegenwärtig bringe das Russische Tod und Zerstörung, ereiferte sich eine Ukra­inerin aus dem Publikum. Es sei bezeichnend, dass in den eroberten Gebieten ukrainische Literatur zerstört und durch Puschkin-Bände und -Plakatwände ersetzt würden. Wenn Bomben auf ihr Land fallen, sagten heute viele Ukrainer sarkastisch, die russische Kultur sei mal wieder im Anflug.

Andrzej Stasiuk (links) und Juri Andruchowytsch (rechts) mit Moderator Ziemowit Szczerek (Mitte)
Andrzej Stasiuk (links) und Juri Andruchowytsch (rechts) mit Moderator Ziemowit Szczerek (Mitte)Ali Ghandtschi

Der polnische Autor Andrzej Stasiuk, den es nach eigenem Bekenntnis stets in den Osten mit seinen durch geschichtliche Katastrophen gezeichneten Räumen gezogen hat, sprach über seinen jüngsten Roman „Grenzfahrt“, der an der polnisch-sowjetischen Grenze unmittelbar vor dem deutschen Einmarsch im Juni 1941 spielt. Stasiuk, der mit einer Sammelbüchse für die ukrainische Armee auftrat, bekannte, die „bestialische“ Seite des Menschseins ziehe ihn an; mit seinen prekären Flüchtlingen, verkommenen polnischen Exsoldaten und deutschen Besatzern habe er eine Vorkriegssituation extrapoliert, die, als kurz nach dem Erscheinen des Buchs Russland die Ukraine überfiel, sich als erschreckend prophetisch erwiesen habe. Sein Heimatland sei ein Aufmarschgebiet, erklärte Stasiuk, der anmerkte, Putins Krieg habe ihm seine früheren Reisewege nach Sibirien und in die Mongolei versperrt. Nach Russland, so der Autor, müsse man heute mit dem Panzer fahren.

Die polnische Autorin und Frauenrechtsaktivistin Klementyna Suchanow argumentiert, Europa befände sich seit Jahren im Krieg, den Russland, aber auch Amerikas Neue Rechte gegen die liberale Gesellschaft führten. Suchanow, die 2016 den „allpolnischen Frauenstreik“ gegen das faktische Abtreibungsverbot der PiS-Regierung in ihrem Land gegründet hat, sprach über ihr 2023 auf Deutsch erschienenes Buch „Das ist Krieg. Die Strategien von Fundamentalisten zur Abschaffung der Menschenrechte“, worin sie die politische Lobbyarbeit rechter Denkfabriken wie des polnischen Ordo Iuris oder der amerikanischen Heritage Foundation zur Beschneidung der Rechte von Frauen und LGBT-Personen nachzeichnet.

Diese Denkfabriken stünden Trump, aber auch russischen reaktionären Oligarchen von Konstantin Malofejew bis Wladimir Jakunin nahe und seien vom Kreml infiltriert. Putin habe 2012 mit dem Beginn seiner dritten Amtszeit begonnen, eine rückwärtsgewandte Ideologie aufzubauen, so Suchanow. Die Polen verstünden die Signale besser als die Westeuropäer. Dass Trump inzwischen die Kreml-Narrative über den Ukrainekrieg übernimmt und sich gegen den ukrainischen Präsidenten wendet, zeige, dass Putin ideologisch auf der Überholspur sei.

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