„Echo 72. Israel in München“: Wie klingt der Schrecken? | ABC-Z

Wer dem Komponisten Michael Wertmüller dieser Tage in Hannover auf der Straße begegnet, käme nicht unbedingt auf die Idee, dass er eine der größten innenpolitischen Katastrophen der Bundesrepublik Deutschland nach 1945 mit sich herumträgt. Die ragt in Form von Wertmüllers neuester Partitur aus einem Jutebeutel hervor, den der Komponist gern links trägt, auf der Herzseite. Sie steht für eine doppelte Tragödie: Der Stoff dieser Oper ist katastrophisch – und die Art und Weise, wie während der Arbeit die Wirklichkeit über die Produktion hereinbrach, hätte um ein Haar weitere Verheerungen ausgelöst. Plötzlich stand das ganze Projekt infrage, für alle. Wann gab es das in der neuen Musik zuletzt?
Wertmüller ist Schweizer, jahrzehntelanger Wahlberliner und für den niedersächsischen Winter definitiv zu dünn angezogen. Keine Mütze, keine Handschuhe, nur einen Schal, immerhin, über dem Wollmäntelchen. Und Sneaker an den Füßen (jener Marke mit den drei Streifen, die spätestens seit letztem Sommer alle tragen), selbst bei Schneematsch.
Ob er nicht friere, frage ich ihn aus den Tiefen meiner Daunenjacke heraus. Es ist Mitte Januar, wir stehen auf dem Opernplatz, bis zu dem sich, vom Hauptbahnhof her, die berüchtigte Drogenszene der Stadt erstreckt. Crack vor allem, aber auch härtere, harte Sachen. „Nein, du, eigentlich nicht“, antwortet der 58-Jährige in freundlichem bernhochdeutschem Singsang. Nur sein Knie schmerze manchmal. Das sagt er allerdings mehr aus Lust am Kontrapunkt. Wertmüller denkt leidenschaftlich kontrapunktisch, das ehrwürdige kompositorische Note-gegen-Note-Setzen aus der Renaissance und dem Barock ist ihm früh zur zweiten Natur geworden. Trotzdem dürfte ein Kälte-Knie weitgehend Nonsens sein.
Schwer von Gewicht ist sie nicht, die Partitur in der Tasche, aber groß von Format, DIN A2 (gleich 594 mal 420 Millimeter). 243 Seiten, 2.021 Takte. Auf dem roten Einband steht in schwarzen Lettern: „Michael Wertmüller, Israel in München, Oper für Solisten, Chor und Orchester, Libretto Roland Schimmelpfennig“. Was so schon mal nicht stimmt, denn mit Beginn der Proben zur Uraufführung an der Staatsoper Hannover wurde der Stücktitel, nun ja, abgewandelt. Vor Israel in München, wie es bis Anfang Dezember 2024 hieß, schaltete die Intendanz kurzerhand die Formel Echo 72. Die erinnert zwar an TV-Shows mit Ilja Richter aus den Siebzigerjahren (was inhaltlich nicht einmal falsch wäre), hat aber den Vorteil, dass der Name „Israel“ weniger groß geschrieben werden muss, auf Plakaten, im Programmheft, im Netz. Der Nahostkonflikt springt dem Opernpublikum sozusagen nicht mit erhobener Faust ins Gesicht – und vor allem jenen Passanten nicht, die niemals vorhätten, eine zeitgenössische Oper zu besuchen, und a prima vista meinen könnten, es fände am Opernplatz eine agitpropmäßige Veranstaltung zum Gazakrieg statt. Was erneut nicht ganz falsch wäre, aber eben auch nicht ganz richtig. Das Kontrapunktische kann ein Fluch sein. Und Opern, die sich grob mit dem Nahostkonflikt assoziieren lassen, stellen neuerdings ein Sicherheitsrisiko dar.
All dies ist nur ein Teil dieser Geschichte, wenngleich kein unwesentlicher.
Echo 72. Israel in München ist Michael Wertmüllers sechste Oper. Sie handelt vom Attentat palästinensischer Terroristen auf israelische Sportler bei den Olympischen Sommerspielen 1972 in München – und zwar aus der Sicht der Opfer, der Toten. Des Trainers, der Sportler, des Polizisten. Am Ende sterben elf Unschuldige. Im September 2022 jährte sich das Ereignis zum 50. Mal. Viele Details (die Blauäugigkeit der Veranstalter, das Polizei-Versagen, der Wunsch der Deutschen, sich der Welt als Friedensnation zu präsentieren) wurden frisch ins kollektive Gedächtnis gerufen. Das ist die eine zeitgeschichtliche Koinzidenz. Die andere stellte sich am 7. Oktober 2023 ein, als die Hamas Israel überfiel, 1.200 Menschen tötete und 250 Geiseln in ihre Gewalt brachte. Im Gazakrieg sollen seither über 47.000 Menschen getötet worden sein, zwei Millionen wurden vertrieben. Pläne zu einer dauerhaften Waffenruhe gibt es erst jetzt.
Den Vertrag mit der Staatsoper Hannover unterzeichnete Michael Wertmüller im September 2022, im November hatte man sich auf den Stoff geeinigt, es begannen die Gespräche mit dem Dramatiker Roland Schimmelpfennig und die Arbeit am Libretto. Musiktheater ist ein schwerfälliges Geschäft. Alle Beteiligten brauchen einen langen Atem. Von der Auftragserteilung bis zur Uraufführung Ende Januar 2025 werden schließlich 28 Monate vergangen sein. Alles braucht Zeit: das Libretto, die Partitur, das Regiekonzept, das Casting der Solisten, die musikalischen und szenischen Proben vor Ort. Ob ihm die Arbeit lang vorkomme, frage ich. Erst feixt der Schweizer, „wenn ich an die Gage denke, schon, ja!“. Dann sprechen wir über den 7. Oktober, der die Welt in ein Davor und ein Danach zerteilt.
Michael Wertmüller ist Jude, spricht aber ungern darüber. Er begreife sich als „lost jew“, sagt er, als Verlorener. Die Beschäftigung mit einem Opernstoff wie Echo 72 oder die Katastrophe des Gazakriegs, erst recht die Verbindung beider, konfrontiere ihn zwar mit seiner Identität. „Doch warum muss ich mich bekennen? Alles, was ich empfinde, liegt in meiner Musik.“ Es braucht Mut, diesen Satz nicht als Ausrede abzutun, als Gruß aus dem Elfenbeinturm. Der Diskurs über den Nahostkonflikt ist zutiefst vergiftet, man hat sich darüber sämtliche Köpfe eingeschlagen; die Kunst aber – und das wäre das zu vollbringende perfekte Kunst-Stück, das Wertmüller meint – bietet sich selbst als Gegenstand der Auseinandersetzung an, schafft neue Räume der Assoziation und Reflexion, des Gesprächs. Man braucht Mut, wie gesagt, um das ernsthaft zu denken.
Musikalisch hat Michael Wertmüller mehrere Leben. Das erste spielt in der Schweiz: Geboren in Thun, Zögling eines Kadettenkorps (in dem er Uniform tragen muss, exerzieren lernt und sich rasch als hoffnungsloser Fall entpuppt), der Vater ist Hobby-Schlagzeuger und macht Swing und Dixieland. Das zweite Leben spielt in der Welt, die Wertmüller seit 30 Jahren „wild bereist“, wie er sagt, er studiert Jazz und Komposition und tritt in Clubs auf (an der Seite von Peter Brötzmann, Werner Lüdi, Blixa Bargeld und vielen anderen). Das dritte Leben spielt im Theater. Wertmüller schreibt die Musik für Christoph Schlingensiefs Fluxus-Oratorium Eine Kirche der Angst vor dem Fremden in mir, komponiert Opern (die bei ihm konsequent so heißen) auf Libretti von Lukas Bärfuss und Dea Loher und schraubt zusammen mit dem Maler Albert Oehlen und dem Dichter Rainald Goetz bei der Ruhrtriennale 2021 am Gesamtkunstwerk.
Zwei Jahre später, als im Gazastreifen der Krieg ausbricht, sitzt er in seiner Wohnung in Berlin-Prenzlauer Berg an der Partitur-Skizze zu Israel in München, einen Monat später liegen die 21 Nummern in einer fertigen ersten Fassung vor. Die Arbeit ist getan. Doch die Intendantin Laura Berman und die Regisseurin Lydia Steier diskutieren hart darüber, ob das Stück jetzt noch aufgeführt werden könne. Um sich dann sehr schnell, sehr klar dafür zu entscheiden. Mit dem richtigen Sicherheitskonzept.