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Dystopische Satire wird zur Realität: Die Demokratie stirbt mit einem Tippfehler | ABC-Z

Terry Gilliams Kultfilm „Brazil“ beginnt mit einem folgenreichen bürokratischen Fehler: Eine Fliege fällt in eine Schreibmaschine und verwandelt den Namen Tuttle in „Buttle“. Augenblicke später stürmt ein Sondereinsatzkommando mit brutaler Gewalt die Wohnung von Mr. Tuttle, entführt ihn vor den Augen seiner Familie, lässt ihn im byzantinischen Labyrinth des Staatsapparats verschwinden und hinterlässt ein Trümmerfeld. Sein Verbrechen? Ein Fehler.

Die Maschinerie des Staats hat eine Fehlzündung, Mr. Tuttle wird von ihr zermalmt. Gilliams dystopische Satire war noch nie bloße Science-Fiction. In Donald Trumps Amerika beschreibt sie jedoch allzu deutlich die nun herrschende Realität. Die Parallelen sind zu präsent, um sie zu übersehen. In „Brazil“ geht es nicht um eine Ideologie, die in Kampfstiefeln daherkommt, sondern um bürokratische Gleichgültigkeit.

Menschen sterben hier nicht, weil sie Staatsfeinde sind – sie sterben, weil der Staat sich nicht die Mühe macht zu prüfen, ob er die richtige Person vor sich hat oder nicht. Staatliche Gewalt erscheint als banales, von oben abgesegnetes Ereignis, dem höchstens noch ein arrogantes Dementi folgt.

In Trumps manischen Maschinerie gibt es kaum Entkommen

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Man denke nur an den Fall von Kilmar Ábrego García, einem Einwohner von Maryland, der von der Einwanderungs- und Zollbehörde (ICE) willkürlich festgenommen und dann zu Unrecht in ein Hochsicherheitsgefängnis in El Salvador abgeschoben wurde. Wie Mr. Tuttle hat Ábrego García sich nichts zuschulden kommen lassen. Aber in der manischen Maschinerie von Trumps Null-Toleranz-Einwanderungsregime wurden ihm seine Rechte entzogen und ein ordnungsgemäßes Verfahren verweigert.

Er wurde aus dem Land ausgewiesen, in dem er legal gelebt hat. Das System hat einen ungeheuerlichen Fehler begangen – und wie in „Brazil“ interessiert es sich für diesen Fehler nicht, weil die Willkür zum System gehört. In der ersten Amtszeit Trumps wurden Kinder von ihren Eltern getrennt und in Käfige gesteckt. In Trumps zweiter Amtszeit werden Migranten, die Asyl suchen, nicht wie Menschen behandelt, und Asyl gibt es nicht mehr. Die Grausamkeit war keine Panne – sie ist das Exempel, das statuiert werden soll.

Trump regiert wie ein Mann, der „Brazil“ gut studiert hat. Nicht als Geschichte, aus der eine Moral abzuleiten wäre, sondern als Lehrbuch. Seine Regierung macht Brutalität zu einem bürokratischen Akt und verwandelt den Slogan „Recht und Ordnung“ in ein Instrument illegaler Repression.

Es könnte eine Parodie sein

Zuweilen grenzt das an Parodie: Behörden, die jegliches Fehlverhalten leugnen, während sie administrative Verwüstungen anrichten, die an einen Satz aus Gilliams Film erinnern: „Don’t fight it, son. Gestehe schnell! Wenn du zu lange zögerst, könntest du deine Kreditwürdigkeit aufs Spiel setzen.“

Was diesen Vergleich so beunruhigend macht, ist nicht nur der Zusammenbruch juristischer Verfahren, sondern die Erosion der Realität selbst. Die in „Brazil“ gezeigte Welt ist berühmt für ihren verzerrten Sinn für Logik, ihre albtraumhafte Weigerung, zwischen Wahrheit und Fiktion zu unterscheiden. Kommt Ihnen das bekannt vor? Trumps Amerika lebt mehr und mehr von „alternativen Fakten“, Verschwörungstheorien und medialer Manipulation.

Selbst Trumps Besessenheit von Äußerlichkeiten – sein bombastisches Auftreten in der Öffentlichkeit, seine Frisur, seine künstliche Hautfarbe – spiegelt die groteske Konsumdystopie von „Brazil“ wider. In Gilliams Welt unterziehen sich die Menschen endlosen Schönheitsoperationen, um eine falsche Perfektion aufrechtzuerhalten, während die Welt um sie herum zerbröselt. Realität wird durch Werbung verdeckt, Wahrheit geht im Spektakel unter.

Unter Trump ist das Ringen um Wahrheit dem unaufhörlichen Angriff auf eine aufgeklärte Vorstellung von Realität gewichen, deren Beschreibung Plausibilität und Faktentreue verlangt. „Wolodymyr Selenskyj aus der Ukraine hat den Krieg begonnen, nicht Putin.“ „Alle Venezolaner sind Gangster.“ „Die EU wurde geschaffen, um die USA zu bescheißen.“ Trump betreibt derweil die Abschaffung aller Bildungsprogramme, die sich mit der hässlichen Geschichte der Sklaverei und der Unterwerfung von Afroamerikanern und anderen Minderheiten befassen.

Die Regierung bestraft kritisches Denken

Trump verkündete stolz: „Die Critical Race Theory aus unseren Schulen zu verbannen, ist nicht nur eine Frage der Werte, sondern auch eine Frage des na­tio­nalen Überlebens.“ Seine Regierung bemüht sich um die Abschaffung des Bildungsministeriums und bestraft Universitäten für kritisches Denken. Der Schaden wird erst langsam spürbar. Trump verdächtigt immer mehr Amerikaner, Kriminelle zu sein, die er in Gulags außerhalb der Vereinigten Staaten abschieben will. Ohne ordentliches Verfahren, ohne Aufsicht der Justiz.

Seine Handlungen sind keine vereinzelten Angriffe auf das System der Gewaltenteilung. Es handelt sich um eine Form von amerikanischem Exzeptionalismus à la Trump, der den Absichten der Schöpfer der amerikanischen Verfassung eklatant zuwiderläuft, die besagen, dass jede Person, die der Gerichtsbarkeit der Vereinigten Staaten unterliegt, Anspruch auf ein ordnungsgemäßes Verfahren hat. Alle Menschen, die in den Vereinigten Staaten leben, haben ein grundlegendes Recht auf Schutz vor Willkür.

Diese „Angriffe“ sind Teil einer umfassenden Kampagne, die darauf zielt, Intellektuelle, Akademiker, Künst­ler*in­nen, unabhängige Medien und jede andere gesellschaftliche Institution, die sich weigert, ihm zu applaudieren, zum Schweigen zu bringen. Es ist noch nicht so lange her, dass die Vereinigten Staaten als funktionierende Demokratie galten, in der das Gesetz herrscht – zumindest nach internationalen Maßstäben.

Die USA werden zur Bananenrepublik

Heute ähneln sie immer mehr einer Bananenrepublik. Eine echte Demokratie ist dazu da, Minderheiten vor der Tyrannei der Mehrheit zu schützen. Im heutigen Amerika wird dieser Grundsatz in einem alarmierendem Tempo ausgehöhlt. Die amerikanische Demokratie ist nicht nur im Niedergang begriffen, sondern steht am Rande des Komas, und das nur hundert Tage nach dem Beginn von Donald Trumps zweiter Amtszeit.

Ich selbst bin seit 1999 US-Bürger und seit Langem in Berlin ansässig. Als offen queere ­Person of Color finde auch ich mich nun mit dem von Trump errichteten System der Angst konfrontiert. Allein der Gedanke, meine Familie in den USA zu besuchen, lähmt mich.

Ich mache mir Sorgen, dass Grenzbeamte in einem Moment des Irrtums oder des Verdachts wegen meiner ­Reisen oder aus anderen Gründen mich als unerwünschte oder gefährliche Person markieren und in eines der berüchtigten aus­gelagerten Abschiebegefängnisse werfen könnten – diese privatisierten Einrichtungen, in denen die Menschenrechte oft ebenso verschwinden wie jede ­rechtliche Verantwortung der nominell Verantwortlichen.

Was den fiktiven Mr. Tuttle, den realen Kilmar Ábrego García und Millionen anderer Menschen in Trumps Amerika verbindet, ist nicht Schuld oder Kriminalität – es ist unsere Verletzlichkeit. Wir sind verwundbar gegenüber Systemen, die sich nicht dafür interessieren, wer wir sind, woher wir kommen oder welche Wahrheit wir sagen; Systemen, die mehr an Quoten, medialer Optik und politischem Theater interessiert sind als an Gerechtigkeit oder schlichten Fakten.

Die Demokratie stirbt bürokratisch

Ábrego Garcías Fall ist keine Anomalie. Er ist ein „Buttle“ von vielen, keine Ausnahme. Seine Geschichte unterstreicht, wie leicht eine Regierung – jede Regierung – Menschen auf bloße Datenpunkte reduzieren kann; wie ein Name, der auf einem Formular steht, zu einer lebenslangen Gefängnisstrafe führen kann.

Die Demokratie stirbt nicht mit einem Knall, sondern mit einem Tippfehler, einem falsch ausgefüllten Formular, einem bürokratischen Versehen. Wenn wir uns jetzt nicht wehren, besteht die Gefahr, dass Gilliams Fiktion zu einer dauerhaften Realität wird – leise, effizient, entmenschlichend. Aber beim nächsten Mal wird niemand sagen: „Entschuldigung, es handelt sich um eine Verwechslung.“

Aus dem Englischen von Ulrich Gutmair

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