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Drei große Renten-Wahrheiten, die uns die Parteien im Wahlkampf verschweigen | ABC-Z

Der Wirtschaftsweise Werding prognostiziert Sozialversicherungsbeiträge von mehr als 50 Prozent. Wie die Parteien das verhindern wollen und wo Fachleute die Ideen für zu wenig halten.

Mit Wucht kommen die Probleme der Sozialversicherung in diesen Tagen im Wahlkampf an. In einer Berechnung für das ZDF rechnet der Wirtschaftsweise Martin Werding nun vor, dass die Sozialabgaben bis 2050 auf rund 50 Prozent des Arbeitsentgelts steigen werden – wenn es keine Reformen seitens der Politik gibt.

Besonders drei Sozialversicherungssysteme treiben die Kosten in die Höhe: Rente, Gesundheit und Pflege. Was wollen die Parteien dagegen tun und wie viel bringt das? Ein Überblick.

Kostenexplosion in der gesetzlichen Krankenversicherung

Das Problem des Gesundheitssystems bringt der Gesundheitsökonom Jürgen Wasem von der Uni Duisburg-Essen auf den Punkt: Die Ausgaben der gesetzlichen Krankenkassen stiegen seit Jahren stärker als die Löhne und Gehälter, erläutert er. Arbeitgeber und Arbeitnehmer müssen deshalb einen immer größeren Teil vom Bruttoarbeitsentgelt für die Gesundheitsversicherung aufbringen.

In ihren Wahlprogrammen widmen sich die Parteien dem Problem in unterschiedlicher Detailtiefe. CDU und CSU haben dazu nur einen Satz formuliert: „Dazu streben wir mehr Effizienz beim Einsatz von Beitragsgeldern an und stärken den Wettbewerb der Krankenkassen.“ Die FDP adressiert den wachsenden Finanzbedarf der Krankenkassen gar nicht direkt.

SPD und Grüne schlagen hingegen umfassende Reformen vor. Beide Parteien wollen die starre Trennung zwischen gesetzlicher und privater Krankenversicherung perspektivisch hin zu einer Bürgerversicherung auflösen und die privaten Kassen am Finanzausgleich – je nach Gesundheit der Patienten – der gesetzlichen Kassen beteiligen.

Die Grünen wollen darüber hinaus künftig auch Kapitalerträge für die Finanzierung des gesetzlichen Gesundheitssystems heranziehen, wie es zuletzt Kanzlerkandidat Robert Habeck noch einmal betont hat. Dafür soll die Beitragsbemessungsgrenze – die Summe bis zu der Einkommen mit Sozialabgaben belastet wird – angehoben werden. Die Vorstellungen der SPD gehen in eine ähnliche Richtung: „Die Beiträge der Versicherten sollen sich noch stärker als jetzt an ihrer wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit orientieren“, schreiben die Sozialdemokraten.

Union und FDP wollen das Gesundheitssystem hingegen vor allem effizienter machen. So wollen die Freien Demokraten die Notfallversorgung modernisieren und die starre Trennung zwischen ambulanter und stationärer Versorgung, die zu Doppeluntersuchungen führt, aufweichen. Die Union betont darüber hinaus auch noch, dass künftig Pflegekräfte und andere Praktiker im Gesundheitswesen mehr Verantwortung von den Ärzten übernehmen sollen.

Diese Sparansätze kommen auch bei vielen Experten gut an. Es sei sinnvoll, wenn Optiker, Pflegekräfte und Hörgeräte-Akustiker mehr Untersuchungen von den gut verdienenden Ärzten übernehmen würden, meint etwa Jürgen Wasem. Zugleich befürwortet Wasem auch die Kapitalerträge-Idee der Grünen. Schon das zeigt, wie groß das Finanzierungsproblem ist.

Doppelte Demografie-Bombe in der Pflegeversicherung

Der demografische Wandel trifft auch die soziale Pflegeversicherung gleich doppelt: Zum einen werden immer mehr Menschen pflegebedürftig – auch weil die Politik den Kreis der Anspruchsberechtigten zuletzt erweitert hat. Und zum anderen herrscht in der Branche ein großer Fachkräftemangel. Das treibt die Kosten immer weiter in der Höhe.

Für die gesetzliche Pflegeversicherung müssen Arbeitgeber und Arbeitnehmer bereits in diesem Jahr 0,2 Prozentpunkte mehr zahlen. Laut Prognosen wird der Beitrag für Eltern von heute 3,6 Prozent bis 2035 auf über vier Prozent des Bruttoarbeitsentgelts steigen. Zugleich zahlen Pflegebedürftige auch immer höhere Eigenanteile.

Insbesondere Union und SPD wollen die Kosten für die Familien der Pflegebedürftigen künftig wieder reduzieren. Ein klarer Finanzierungsvorschlag dafür fehlt allerdings.

Union und FDP setzen zugleich auf mehr Eigeninitiative: mit einer betrieblichen Pflegezusatzversicherung. SPD und Grüne wollen hingegen, ähnlich wie im Gesundheitssystem, dass sich die privaten Pflegeversicherungen am Risikostrukturausgleich der gesetzlichen Kassen beteiligen, um die Kosten im staatlichen System zu senken.

Mehr Rentner und weniger Beitragszahler

Die gesetzliche Rente steht in den kommenden Jahren vor einem großen Finanzproblem: Die geburtenstarken Babyboomer-Jahrgänge gehen nach und nach in Rente. Im Verhältnis müssen immer weniger jüngere Menschen die Renten finanzieren, die sich immer mehr ältere Menschen in ihrem Leben erarbeitet haben.

Passende Antworten gebe im jeweiligen Wahlprogramm keine der Parteien, findet der Ökonom Joachim Ragnitz, Rentenexperte und stellvertretender Leiter der Dresdner Niederlassung des Wirtschaftsforschungsinstituts ifo.

Den Rentnern bloß nicht wehzutun und sie bloß nicht zu verschrecken zieht sich als Linie durch die Programme aller Parteien.

Joachim Ragnitz, ifo-Ökonom

„Dass die gesetzliche Rente nicht bleiben kann, wie sie ist, ist objektiv klar“, sagt er dem Tagesspiegel. In den 2030er-Jahren werde das System faktisch nicht mehr finanzierbar sein. Damit gebe es denklogisch nur zwei Möglichkeiten: Entweder die Renten-Jahrgänge müssen auf etwas verzichten oder die jüngeren Generationen zahlen mehr.

„An diese einfache Wahrheit traut sich in den Wahlprogrammen aber keine Partei ran“, sagt Ragnitz. Das liege natürlich daran, dass die Rentner und die rentennahen Jahrgänge die wichtigste Wählergruppe seien.

„Den Rentnern bloß nicht wehzutun und sie bloß nicht zu verschrecken zieht sich als Linie durch die Programme aller Parteien“, so Ragnitz’ Fazit. An der Realität gehe das vorbei.

Besonders kritisch sieht er das Programm der AfD: „Da ist die Irreführung besonders groß: Die AfD verspricht ein Rentenniveau von mehr als 70 Prozent. Das ist komplett unrealistisch, wenn schon die derzeit geltenden 48 Prozent mittelfristig nicht mehr finanzierbar sind“, sagt er.

Aber auch in den Programmen der anderen Parteien findet er wenig Gutes: „SPD und Grüne sagen nicht ehrlich, dass sie mit ihren Versprechen die Beitragszahler stark belasten würden“, befindet Ragnitz. Bei der SPD ist das Vorhaben, ein Rentenniveau von 48 Prozent langfristig zu garantieren, eines der Kernversprechen des Wahlkampfs. Von einer längeren Lebensarbeitszeit oder davon, Möglichkeiten für den früheren Renteneintritt abzuschaffen, halten die Sozialdemokraten nichts.

Auch die Grünen versprechen die 48 Prozent, halten aber auch den Einstieg in eine Aktienrente – also eine kapitalgedeckte Säule des Systems – für notwendig. Um ein solches Modell war zu Zeiten der Ampel-Koalition heftig gestritten worden, es war ein Kernanliegen der FDP.

Die Idee findet sich nun auch im Wahlprogramm der Liberalen wieder, das beim Thema Rente aber nicht in die Tiefe geht. „Die FDP legt erst gar kein detailliertes Rentenkonzept vor und zieht sich auf ihre Idee einer Aktienrente zurück“, urteilt Ragnitz.

Und auch von den Vorschlägen der Union hält er wenig. In deren Programm finden sich ein Bekenntnis zum derzeitigen Renteneintrittsalter und das Versprechen, es werde keine Rentenkürzungen geben. Die Union rede wolkig davon, das System durch Wirtschaftswachstum stabilisieren zu wollen, was die realen Probleme aber niemals lösen werde, kommentiert Ragnitz. „Von den Ideen, die es bei der Union noch bis vor ein paar Monaten gab, ist nichts mehr zu hören, etwa davon, die Lebensarbeitszeit zu verlängern. Stattdessen gibt es ungedeckte Versprechen ohne seriöse Gegenfinanzierung.“

Wie aber ginge es besser, wie ließe das System sich stabilisieren? Da hat Ragnitz konkrete Ideen. Besonders wirksam wäre es seiner Ansicht nach, das Renteneintrittsalter zu erhöhen – aus seiner Sicht eine logische Folge des Umstands, dass auch die Lebenserwartung stetig ansteigt. Denkbar wäre zum Beispiel, das Verhältnis von Lebensarbeitszeit zu Rentenzeit konstant zu halten.

Er weist zudem darauf hin, dass die Rente für besonders langjährige Versicherte (im Volksmund: „Rente mit 63“) gut ausgebildete Facharbeiterinnen und Facharbeiter bevorteile. Denn wer körperlich hart arbeitet und wenig verdient, kann sich den vorzeitigen Renteneintritt oft nicht leisten. Ragnitz weist darauf hin, dass es die Ausgaben dämpfen würde, diese Rentenform abzuschaffen und für die Menschen, die ihre körperlich anspruchsvollen Jobs tatsächlich irgendwann nicht mehr ausüben können stattdessen lieber den Zugang zur Erwerbsminderungsrente zu erleichtern.

Ebenfalls denkbar wäre aus seiner Sicht, die Entwicklung der Renten nicht mehr an die Löhne, sondern nur noch an die Inflation zu koppeln. Dann wären die Menschen nach dem Renteneintritt nicht mehr an allgemeinen Wohlstandssteigerungen beteiligt, sondern es bliebe nur ihre Kaufkraft erhalten.

Von Karin Christmann, Caspar Schwietering

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