Politik

Dramatischer Tag im Bundestag: Merz geht „all in“ und verliert | ABC-Z

Stundenlang ringen Union und FDP, SPD und Grüne um einen Kompromiss in der Asylpolitik. Vergeblich. Am Ende scheitert Unionskanzlerkandidat Friedrich Merz auch an Abweichlern in den eigenen Reihen und denen der FDP.

Am Ende des Tages steht die klare Niederlage. Das Zustrombegrenzungsgesetz der Unionsfraktion findet im Deutschen Bundestag keine Mehrheit. 338 Ja-Stimmen, 349 Mal Nein. Elf Stimmen zu wenig.

Was unspektakulär klingt, ist das Ende eines dramatischen Tages. Geklärt ist damit nichts. Nur der Sieger steht fest: die AfD. Der Bundestag gab ein spektakulär handlungsunfähiges Bild ab. Gesetzeskraft hätte Merz‘ Initiative ohnehin nicht erlangt: Im Bundesrat hätte es keine Mehrheit gegeben.

Wofür das alles?

Unionsfraktionschef Friedrich Merz begründete sein vor einer Woche angekündigtes Vorgehen am Mittwoch im Bundestag mit seinem Gewissen. Für ihn sei es eine „Gewissensfrage“, nach den Messermorden in Aschaffenburg wirksame Maßnahmen zur Begrenzung der irregulären Migration zu verabschieden. Bereits der Mittwoch war eine Premiere: Ein Antrag der Unionsfraktion fand eine Mehrheit nur mit den Stimmen der AfD. Dabei ging es allerdings nur um einen sogenannten Entschließungsantrag – letztlich eine Meinungsäußerung des Bundestags. Rechtlich bindend ist ein solcher Antrag nicht.

Für SPD und Grüne war dennoch schon der Mittwoch ein Tabubruch, ein „Sündenfall“, wie SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich in der Debatte am Freitag sagte. „Der Sündenfall wird Sie für immer begleiten, aber das Tor zur Hölle können wir noch gemeinsam schließen“, rief er der Union zu. „Sie müssen die Brandmauer wieder hochziehen! Kehren Sie zurück in die Mitte der Demokratie!“

Am Morgen sieht es noch nach Vertagung aus

Vielleicht war es auch dieser Furor von SPD und Grünen, der dem Unionsfraktionschef keine Wahl ließ. Am Morgen hatte es dennoch danach ausgesehen, als werde der Showdown abgesagt.

Noch bevor Bundestagspräsidentin Bärbel Bas die Sitzung um 11.00 Uhr eröffnet, wird ein Vorschlag der Liberalen bekannt. Es wirkt wie eine Notbremse, aber auch wie eine gesichtswahrende Lösung: FDP-Fraktionschef Christian Dürr schlägt vor, die Abstimmung über das Zustrombegrenzungsgesetz auf die letzte Sitzungswoche des Bundestags vor der Wahl zu verschieben. Bis dahin könne man versuchen, eine Mehrheit mit Parteien der „demokratischen Mitte“ zu suchen. SPD und Grüne signalisierten Zustimmung – für die Rücküberweisung in den zuständigen Innenausschuss wäre damit eine Mehrheit vorhanden gewesen.

Doch zunächst meldet die Union Gesprächsbedarf an: Thorsten Frei, Geschäftsführer der Unionsfraktion, beantragt eine Unterbrechung der gerade erst eröffneten Sitzung, um seiner Fraktion die Gelegenheit zu einer Sitzung zu geben. Eine halbe Stunde.

Am Ende werden drei Stunden daraus. Denn die Union verhandelt nicht nur intern, sondern eben auch mit SPD, Grünen und FDP. Hinter den Kulissen kommt es zu hektischen Gesprächen, sowohl innerhalb der Fraktionen als auch in wechselnden Besetzungen im Büro von Friedrich Merz.

„Wir müssen heute entscheiden“

Irgendwann ist klar: Es wird keinen Kompromiss geben. „Wir müssen heute entscheiden“, sagt Merz nach Angaben von Teilnehmern in einer Sitzung seiner Fraktion. Die Gespräche hätten zwar in einer vernünftigen Atmosphäre stattgefunden. Es sei auch richtig gewesen, den Versuch zu unternehmen. Aber es sei klar geworden, dass es in dieser Wahlperiode keine Gespräche mehr mit SPD oder Grünen zu Maßnahmen in der Migrationspolitik geben werde.

Für seine Rede erhält Merz langen Applaus und stehende Ovationen. Die Fraktion signalisiert sich selbst Einigkeit. Dabei hatte die Mehrheit für das Gesetz schon am Morgen gewackelt. Ein CDU-Abgeordneter berichtet aus der Sitzung, die Lage sei unklar. Berichten zufolge kann es noch mehr Abweichler geben als am Mittwoch, angestoßen vielleicht auch durch die beispiellose Intervention von Altkanzlerin Angela Merkel. Am Mittwoch war das Votum der Unionsfraktion noch halbwegs geschlossen: Eine Abgeordnete hatte gegen den letztlich erfolgreichen Antrag gestimmt, acht Abgeordnete blieben der Sitzung fern oder gaben ihre Stimme nicht ab. Jetzt sind es am Ende zwölf.

Ist Merz nun beschädigt?

Nach den gängigen Regeln der Politik ist die Sache eindeutig: Ja. Es sind zwölf Stimmen gegen den Kanzlerkandidaten. Merz hat es in einer für ihn und die Union zentralen Frage nicht vermocht, seine eigene Fraktion vollständig auf seine Seite zu ziehen. Er ist „all in“ gegangen. Er hat verloren.

Für Merz liegt es an der FDP

Merz sieht das nach der verlorenen Abstimmung anders: Für ihn liegt es an der FDP. Dort habe es zwei Nein-Stimmen, fünf Enthaltungen und 16 Nicht-Teilnahmen gegeben, rechnet er am Abend korrekt vor. „Die FDP hat im Grunde genommen mit ihrer schlechten Präsenz und ihren vielen Enthaltungen und den zwei Nein-Stimmen mit verhindert, dass es hier zu einer Asyl- und Migrationswende gekommen ist.“ Für eine Mehrheit hätte es selbst dann nicht gereicht, wenn bei der Union alle zugestimmt hätten, denn ein Abgeordneter sei so schwer krank, dass er keinesfalls habe kommen können. „Ich bin mit mir persönlich sehr im Reinen, dass wir es wenigstens versucht haben.“

Ironischerweise war es am Nachmittag FDP-Fraktionschef Dürr zugefallen, das Scheitern der Gespräche zu verkünden. Um 14.00 Uhr teilt er den wartenden Journalisten mit, die FDP habe „alles in ihrer Macht stehende“ versucht, um eine demokratische Mehrheit für eine neue Migrationspolitik zu erreichen. Daher habe seine Fraktion die Rücküberweisung angeboten, um bis zum 11. Februar eine „demokratische Mehrheit in der Mitte des Hauses“ zu finden.

Er habe SPD und Grünen das Angebot gemacht, das Gesetz zur Umsetzung des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS) mitzutragen, sagt Dürr, wenn diese sich dafür bereit erklärten, dem Gesetzentwurf der Union zuzustimmen. „Dieses Kompromissangebot ist vorhin von den Fraktionsvorsitzenden von SPD und Grünen abgelehnt worden.“ Dabei stehe teilweise im Wahlprogramm der SPD, was die Union da beantrage. Dann kündigt Dürr noch an, dass die FDP dem Gesetzentwurf der Union zustimmen werde.

Furor auf beiden Seiten

Der Kampf um die Deutungshoheit geht danach im Parlament weiter – so hitzig, als habe es nie auch nur die leiseste Chance auf eine Einigung gegeben. SPD-Fraktionschef Mützenich und Innenministerin Nancy Faeser fordern sogar eine Entschuldigung von Merz für sein Vorgehen am Mittwoch. Außenministerin Annalena Baerbock sagt, es gehe darum, „wie wir die Schande von Mittwoch einigermaßen korrigieren können“.

Moralischen Furor kann auch die Union. Merz und CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt werfen SPD und Grünen vor, nicht oder zu wenig über die Opfer der Anschläge und Attentate gesprochen zu haben. Merz spricht von „täglich stattfindenden Gruppenvergewaltigungen aus dem Asylmilieu“.

Unterm Strich werfen Union und FDP der SPD vor, dem Gesetzentwurf nicht zuzustimmen, obwohl Teile davon dem sozialdemokratischen Wahlprogramm entsprächen. Den Grünen werfen sie vor, gar nicht an einer Migrationswende interessiert zu sein. SPD und Grüne dagegen sagen, Union und FDP hätten sie erpressen wollen: Stimmt zu oder wir machen es doch mit der AfD.

Der Tag im Bundestag im Liveticker bei ntv.de.

Vor allem die SPD ist erkennbar erbost darüber, dass die Union ihr unterstellt, in der Migrationspolitik nichts gemacht zu haben. „Bei der Begrenzung der irregulären Migration geht es ums Handeln, nicht um Symbolik“, sagt Innenministerin Faeser. Sie betont, die Koalition habe die Zahl der Abschiebungen erhöht und die irreguläre Migration um ein Drittel gesenkt.

Wer recht hat? Das ist vielleicht gar nicht so wichtig. Entscheidend wird sein, welche Folgen der Streit vom Freitag für den Ausgang der Bundestagswahl haben wird. Schwer vorstellbar, dass die Union nun profitiert. „Das ist die Demontage von Friedrich Merz als Kanzlerkandidat gewesen“, sagt AfD-Chefin Alice Weidel später. So weit ist es noch nicht. Aber geholfen hat ihm der Freitag auch nicht.

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