Kultur

“Double Infinity” von Big Thief : Hippietum auf höchstem Niveau | ABC-Z

Die fabelhafte, verletzliche und starke Sängerin Adrianne Lenker ist bald Mitte 30 und spürt – etwas früh vielleicht – die
Vorteile des Midlife. Doch, die gibt es. Zunehmende Gelassenheit zum Beispiel,
wenn man Glück hat. Vielleicht hat die eine oder andere Therapie genützt. Und es hilft wohl
auch, Zentrum einer verehrten Indie-Folk-Band wie Big Thief zu sein. Mit noch mehr Glück findet man sogar Selbstironie: Auf dem schön verwehten Stück Grandmother singt Lenker über
die Frauen in ihrer Familie. We are all
insane
, wir sind alle schräg drauf, aber im Refrain heißt es: Gonna turn
it all into rock ‘n’ roll
. Frei übersetzt: Ich kann das ja alles in meiner
Musik verwursten. Lustig ist das zum einen, weil es stimmt, und zum anderen,
weil Big Thief ansonsten gegen fast jedes Klischee des Rock ‘n’ Roll arbeitet.

Die Brooklyner Band tut viel dafür, um nicht in den
ganz großen Arenen zu enden und sich dort zu wiederholen. Die Mitglieder sind fantastische Musiker, müssen das aber nicht offensiv zeigen. Sängerin Adrianne Lenker lässt
bestimmt keine KI an ihre Texte, kann aber dennoch für viele verständlich von
schöner und schmerzhafter queerer Liebe und einer verkorksten Kindheit erzählen
(kaum feste Wohnsitze und ein Vater, der sie zum Teeniestar formen
wollte). 

Und selbst in den besten Studios macht die Band keine Anstalten, besonders saubere Aufnahmen einzuspielen. Big Thief klingen
stets, als seien sie gerade aufgestanden und machten im Landhaus vor dem
Frühstück etwas Musik. Eine wunderbare Illusion. Wegen des manchmal
etwas dumpfen Raumklangbildes merkt man oft erst im zweiten Durchgang, wie gut die Songs
sind und wie dynamisch die Band sie spielt.

Auch auf ihrem sechsten Album, Double
Infinity,
soll nichts nach wichtiger Produktion klingen, obwohl Big Thief
drei Wochen in der popmythologisch aufgeladenen Power Station aufgenommen
haben. Von dort kommt der Stadionsound von Springsteens Born in the USA oder
der Discoklang auf Slave to the Rhythm von Grace Jones.

Drei Wochen lang fuhren Lenker, der
Gitarrist Buck Meek und der Schlagzeuger James Krivchenia mit dem Fahrrad von
Brooklyn zur Power Station nach Manhattan, um befreundete Musiker zu treffen,
mit denen sie dieses Album aufnahmen. Das ist Kommunenkunst Deluxe, Hippietum
auf höchstem Niveau, das man sich leisten können muss. Zu unserem Glück, denn
musikalisch ist dabei tatsächlich etwas in Gang gekommen.

Im Vorfeld hatte es Grund zur Sorge gegeben, dass die Country- und Folk-Anteile den Big-Thief-Sound etwas zu
gemütlich ausfallen lassen könnten. Lenkers Soloalbum im Frühjahr 2024 klang stark nach Waldhütte und Verkriechenwollen. Und im vergangenen Herbst hatte die Band den 83-jährigen Folkmusiker Tucker Zimmerman für sein Album Dance of Love unterstützt – nett und rührend, sicher, aber eben auch sehr zurückgezogen.

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