Wirtschaft

DJ Wika ist der wohl älteste weibliche DJ Europas | ABC-Z

In der Nacht auf den Mittwoch ist es für Wirginia Szmyt mal wieder spät geworden. Dabei hat die Frau, die in ihrer polnischen Heimat als DJ Wika eine kleine Berühmtheit ist, bei ihrem Abstecher in Frankfurt am Main gar kein Set gespielt. Dass sie spätabends nach der deutschen Premierenfeier der Kinodokumentation über sie nicht gleich ins Bett fand, lag vielmehr daran, dass das Hotel sie in bester Absicht in einem Zimmer mit seniorengerechtem Bad untergebracht hatte – und Szmyt, obschon viel gereist, mit der Armatur nicht zurechtkam.

„Ich konnte das Wasser nicht anstellen“, erzählt sie beim Gespräch am nächsten Morgen. Weil sie so spät das Personal nicht behelligen wollte, zumal – da Szmyt weder viel Deutsch noch Englisch spricht – mit ungewissem Erfolg, half am Ende Agnieszka Zwiefka, die nebenan untergebrachte Regisseurin des Films. „Ich mag alt sein“, sagt Wirginia Szmyt, „aber ich möchte keine Sonderbehandlung.“

Das Alter, die Alten und wie man diese behandelt, das ist für Wirginia Szmyt ein Lebensthema, jedenfalls das jener nun bald 30 Jahre ihres Lebens, in denen sie DJ Wika ist – der älteste weibliche DJ in Polen. Ältester weiblicher DJ der Welt ist sie nicht, zumindest solange die japanische Kollegin Sumiko Iwamura, 89, noch an den Reglern steht.

Glitzerbluse und Zebrajackett

Szmyt ist im Dezember 86 geworden, was niemand, der ihr begegnet, glauben würde. Ihr Haar mag weiß sein, ist aber zu einer üppigen Mähne toupiert, das Gesicht von Falten durchzogen, doch die Lippen leuchten pink wie ihre Fingernägel. Hinter der Brille mit getönten Gläsern in Herzchenform blitzen hellwache blaue Augen, zu Glitzerbluse und Zebrajackett trägt sie schwarze Sneaker. Keine Frage, Wika ist eine Erscheinung, so schillernd wie stilvoll, und sie weiß um ihre Wirkung. „Wika, flirtest du etwa?“, ruft ihr liebevoll die Regisseurin Zwiefka zu, als ihre Protagonistin, die ihr längst eine Freundin ist, für den jungen Fotografen der F.A.S. posiert. Vorher hat sie sich noch mal die Lippen nachgezogen.

Wikas Temperament kann mit ihrem bunten Äußeren locker mithalten, dies wird beim Interview so deutlich wie in Zwiefkas Film, der gerade in den deutschen Kinos angelaufen ist. „Vika!“ heißt er, weil der Verleih das im polnischen Alphabet nicht existente V für international marktgängiger hielt; es passt aber auch deshalb gut, weil „Vika“ an „Viva“ erinnert und der Film seine Heldin und deren Generation hochleben lässt.

Über knapp fünf Jahre hat Zwiefka DJ Wika begleitet, hat Höhepunkte ihrer Karriere eingefangen wie die von ihr mitinitiierte Warschauer Seniorenparade (weniger wild, doch nicht weniger fröhlich als einst die Loveparade) und Tiefpunkte wie ein völlig verregnetes Sommerkonzert beim Prager Pride Festival. Wikas Ankunft in einem polnischen Klub wird zum Triumphzug, die Partyjugend fällt ihr um den Hals; so eine Oma, sagt einer, hätte er gerne. Die Zuneigung ist beidseitig: „Ich adoptiere euch alle“, ruft DJ Wika.

„Es hat einen solchen Reiz, auf eine tanzende und hüpfende Menge zu schauen“, erzählt Wika im Gespräch. „Man fühlt keine Müdigkeit, man ist glücklich. Ich fühle mich dann wie 20.“ Der Samstagabend ist in ihrem gut gefüllten DJ-Kalender ein Fixtermin, bis vier oder fünf Uhr morgens dauern die Partys. „Aber wenn ich nach Hause komme“, fährt sie fort, „fühle ich mich wie 120.“ Die Arbeit sei anstrengend, auch weil sie nicht wie viele jüngere Kollegen nur einen USB-Stick mitnehme, sondern stets einen Packen Vinylplatten, von denen sie Tausende besitze, von Klubmusik über Jazz bis zu polnischem Schlager. „Ich muss nicht das machen, was alle machen“, sagt sie. Als Konkurrentin der Jungen sieht sie sich nicht, schon weil sie als DJ Autodidaktin ist.

Genug vom Schrebergarten

In der ersten Hälfte ihres Lebens hat Wirginia Szmyt als Sonderpädagogin gearbeitet – erst mit schwerstbehinderten Jugendlichen, später in einer Einrichtung für junge Straftäter, die sie am Ende leitete. Nach 30 Arbeitsjahren ging sie in Rente. „Ein Jahr lang saß ich mit meinem Mann im Schrebergarten“, erinnert sie sich. Dann hatte sie genug. Für einen Seniorenklub begann sie das Kulturprogramm zu gestalten und war schockiert über den dafür vorgesehenen Kellerraum, gefühlt schon ganz nah an der Gruft; bald darauf hatte sie einen schönen großen Saal organisiert. Und als sie für eine Party einen DJ engagieren wollte, legte ihr der Chef der Einrichtung ans Herz, aus Kostengründen selbst Musik zu machen. DJ Wika war geboren. Heute ist sie in ganz Polen unterwegs, hat aber auch schon in London oder Budapest aufgelegt. Und ist im Laufe der Jahre auch zur Aktivistin geworden.

Eine Szene des Films zeigt Szmyt bei einer Diskussion mit den Bewohnern eines Altenheims, die Tristesse scheint mit Händen greifbar. „Ich schaue mir nicht gern alte Menschen an“, klagt eine Frau, während Wika tapfer versucht, sich als Gegenmodell zu präsentieren: „Ich habe den Mut, öffentlich zu leben“, sagt sie. Ihre betagten Gesprächspartner scheinen sich lieber verstecken zu wollen, vor der Gesellschaft und vorm eigenen Spiegelbild. Zu ihrem DJ-Partner Krzysztof sagt Wika anschließend: „Ich spiele lieber vor Schwulen.“

jip film

Agnieszka Zwiefka nennt „Vika!“ ein „Doku-Musical“, da Wikas Dasein nicht nur dokumentiert, sondern auch inszeniert und damit kommentiert wird. Eine bewegende Sequenz zeigt eine Choreographie ergrauter Grazien, Wika mittendrin, untermalt vom Song „Blue Eyes Unchanged“ der kanadischen Songwriterin Michelle Gurevich. Darin besingt Gurevich „a girl of age 90“, ein 90 Jahre altes Mädchen, das unter Mühen aus dem Bus steigt und langsam zurückgeht in ihre Wohnung, in der niemand auf sie wartet: „Keiner achtet auf die Alten, doch wenigstens wissen wir, dass es Gerechtigkeit geben wird: Letztlich kommt jeder einmal dran.“ Ihren Film hat Zwiefka der „silbernen Generation“ gewidmet, „unseren Eltern und Großeltern – und unserem künftigen Selbst“.

Ein Mensch mit Gebrechen

Auch im Leben der Wirginia Szmyt gibt es Momente, in denen sie, nicht nur ihrer blauen Augen wegen, jenem unglücklichen Mädchen von 90 Jahren gleicht. Wir sehen, wie sie sich nur mühsam vom Boden erhebt, auf dem sie zuvor Zeitschriften sortiert hat, oder sich stöhnend ein Oberteil über den schmerzenden Arm zieht. „Ich trage ein Hörgerät und habe ein künstliches Hüftgelenk, ich bin ein Mensch mit Gebrechen“, sagt sie. „Aber das ist Standard in dem Alter.“ Und so lange leben zu dürfen wie sie, das sei „eine Freude, ein Wunder“. Plakativ kontrastiert der Film den Blick durch freundlich erleuchtete Fenster, hinter denen sich Menschen vorm Tannenbaum umarmen, mit Wikas Weihnachtsmahl, bei dem ihr einzig Kater Duduś Gesellschaft leistet. Anders als viele Menschen ihrer Generation jedoch ist Wika allein aus freien Stücken. „Ich mag die Einsamkeit und die Stille“, sagt sie.

Was sie vermisst, ist eine gewisse Zärtlichkeit. Vor 13 Jahren starb ihr Mann, der sie zu keinem Auftritt je begleitet hatte; den einstigen Diplomaten interessierte Politik mehr als Partys. „Mit ihm konnte ich durch den Park spazieren oder einen Kaffee trinken gehen“, sagt Szmyt. Im Film sehen wir sie auf dem Friedhof penibel die schweren Grablichter positionieren, DJ Wika wirkt da wie eine normale polnische Rentnerin.

Ergraute Grazien: Szene aus „Vika!“
Ergraute Grazien: Szene aus „Vika!“jip film

In dieses Bild würde auch ihre Warschauer Plattenbauwohnung passen, hingen neben den naiven Landschaftspanoramen nicht auch Wika-Porträts in Pop-Art-Optik. „Ich möchte meinen Alters­gefährtinnen zeigen, dass sie sich bestimmten Rollen verweigern können. Sie können sie ausfüllen, müssen es aber nicht“, sagt Szmyt. „Dieser Ansatz erleichtert uns das Leben. In unserer Wirklichkeit ändert sich gerade vieles.“ Zum Beispiel, ganz banal, hätten auch ältere Frauen nun erkannt, dass man ohne männlichen Partner das Parkett stürmen und allein oder in Gruppen tanzen könne: „Wenn auf zehn Frauen ein Mann kommt“, sagt Wika, „wie sollten sich dann auch Paare bilden?“ Ihre Selbständigkeit geht ihr, die auch mit Mitte 80 noch in Roy-Lichtenstein-Leggins auf der Leiter ihre Decke streicht, über alles.

Der Preis der Freiheit

Sie hat allerdings einen Preis gekostet, und gezahlt hat ihn vor allem Szmyts Familie. Zwei Söhne hat sie, vier Enkelkinder und drei Urenkel, und zu keinem davon ist das Verhältnis eng. Ihre Enkel, sagt Szmyt, arbeiteten viel und hätten zum Feiern keine Zeit. Einer ihrer Söhne begründet im Film sein Desinteresse an ihrer Musik damit, dass sie, als er Rugby-Nationalspieler war, ja auch nie ins Stadion gekommen sei, obwohl ihre Wohnung nur einen Kilometer entfernt liege. Besucht habe sie ihn und seine Familie seit fast 20 Jahren nicht mehr.

In Polen ist sie eine kleine Berühmtheit
In Polen ist sie eine kleine BerühmtheitMaximilian von Lachner

„Ich bin keine traditionelle Großmutter“, sagt Szmyt. „Mein Beruf hat es mir nicht erlaubt, ständig zu meinen Kindern zu hetzen und mich um die Enkel zu kümmern.“ Vielleicht habe ihr dazu auch das Vorbild gefehlt. Ihre Kindheit verbracht hat Szmyt in Vilnius, aus dem sie 1946 mit ihrer Mutter vor der Zwangsumsiedlung nach Sibirien, die ihnen als polnischer Familie drohte, floh; in Polen wuchs sie ohne Verwandtschaft auf und mutmaßt, dass sie sich deshalb schwer damit tue, Beziehungen aufzubauen.

Auf ihre beiden Söhne, beteuert sie, sei sie sehr stolz, sie hätten sich ihre Leben allein aufgebaut. „In diesem Sinne haben sie viel von mir bekommen: Selbständigkeit. Sie wissen, man kann sich auf sich selbst verlassen. Und auf niemanden sonst.“ Die kühle Rationalität mag besonders schmerzen, da Wikas Verhältnis zu ihrer Ersatzfamilie, zu den vielen tanzenden Adoptivkindern, so innig scheint. Als bei ihrer Geburtstagsfeier Wikas schrille Künstlerfreunde auftauchen, stehen die Söhne verlegen am Rand.

Bei DJ Wika wird selbst ein Konferenzraum zur Bühne
Bei DJ Wika wird selbst ein Konferenzraum zur BühneMaximilian von Lachner

Fragt sich DJ Wika manchmal, warum sie engagiert wird: wegen ihrer musikalischen Fertigkeiten oder weil sie eben DJ Wika ist, die energische und fröhliche alte Dame? „Wer mich kontaktiert, der weiß, was ich spiele“, sagt sie. „Ob das wegen meines Alters geschieht oder weil man sich gute Unterhaltung erhofft, das ist am Ende für mich nicht wichtig. Entscheidend ist, dass ich einen freien Termin habe.“ Weitermachen will sie, solange es geht. Der Film, sagt nach der Premiere eine Frau in ihren Dreißigern, habe ihr Lust aufs Alter gemacht.

Als Kinozuschauer zumindest beginnt man, in den reifen Gesichtern auf der Leinwand – und später auch jenseits davon – nach Zeichen der jungen Menschen zu suchen, die diese einmal waren. Der silbernen Generation selbst wiederum könnte DJ Wika ein inspirierendes role model sein. Nur auf die Leiter mögen sie ihr jetzt bitte nicht alle hinterhersteigen.

Back to top button