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Oliver Kahn: „Sepp Maiers Autogramm habe ich heute noch“ | ABC-Z

Der FC Bayern wird 125 Jahre alt. Anlässlich des Jubiläums erzählt Oliver Kahn von seiner Kindheit als Bayern-Fan und über den Moment, als er selbst Teil des Mythos wurde. Kahn glaubte an einen „Scherzanruf von einem lokalen Radiosender“.

Der FC Bayern wird am Donnerstag 125 Jahre alt. Viele große Spieler, Trainer und Funktionäre prägten die Geschichte des erfolgreichsten deutschen Fußballvereins. Zu ihnen gehört fraglos Oliver Kahn, der zwischen 1994 und 2008 im Tor der Bayern stand, Kapitän der Mannschaft war und mit ihr zahlreiche Titel gewann. Im Interview spricht er über seine großen Zeiten und seine besondere Beziehung zu dem Klub.

Das Gespräch ist dem Buch „125 Jahre Bayern München“ von „Sport Bild“ entnommen, das ab sofort im Handel oder hier online für 24,90 Euro erhältlich ist. Auf 224 Seiten wird mit vielen Hintergründen, Fakten und Fotos der Aufstieg des FC Bayern zu einem der größten Fußballklubs der Welt nachgezeichnet.

Frage: Herr Kahn, Sie sind als Spieler wie Funktionär Teil des Mythos „FC Bayern“. In beiden Rollen gewannen Sie die Champions League. Waren Sie eigentlich schon als Kind Bayern-Fan?

Oliver Kahn: Das kann ich absolut mit Ja beantworten. Dafür gibt es auch einen schönen Beweis. Ich war vielleicht sieben oder acht Jahre alt, als der FC Bayern beim Karlsruher SC spielte. Ich stand in Block 1 – da waren nur die echten Karlsruher –, und ich war der Einzige mit einer kleinen rot-weißen Bayern-Fahne in der Hand. Das weiß ich noch ganz genau, weil ich mich an die bösen Blicke der KSC-Fans erinnere. Da ich noch so jung war, haben sie mir das wohl durchgehen lassen. Der FC Bayern hat mich schon als Kind fasziniert. Und dann gab es da noch einen zweiten für mich speziellen Moment, der mein Verhältnis zu diesem Klub früh geprägt hat.

Frage: Und zwar?

Kahn: Ich war mit meinen Eltern im Elsass, das nah an Karlsruhe liegt, zum Essen. An einem der Nebentische saß: Sepp Maier. Mein Vater und Sepp kannten sich, denn die beiden hatten in der Jugend-Nationalmannschaft zusammengespielt. Ich hatte Sepp zwar nicht mehr als aktiven Spieler erlebt, aber natürlich wusste ich, dass er eine Bayern-Legende war, für mich als kleiner Bub daher ein Super-Held. Ich selbst habe mich nicht getraut, nach einem Autogramm zu fragen. Das haben meine Eltern für mich getan. Aber den Zettel mit Sepps Unterschrift habe ich heute noch. Auch das ist eine Faszination des Klubs. Der FC Bayern produziert in seiner Geschichte reihenweise Fußball-Helden.

Frage: Wenn man schon als Kind Bayern-Fan war: Wie ist dann der Moment, wenn der Klub tatsächlich anruft und sagt, dass Sie ein Teil dieses Mythos werden sollen?

Kahn: Ich erinnere mich noch genau an den Wintertag 1993, als ich diesen entscheidenden Anruf bekam: „Hallo, hier ist der Uli Hoeneß!“ Mein erster Gedanke war: Da veräppelt mich doch jemand jetzt. Das ist doch ein Scherzanruf von einem unserer lokalen Radiosender. Dann sagte er: „Kannst du dir vorstellen, zum FC Bayern zu kommen?“ In meiner typischen Art habe ich gesagt: „Da muss ich jetzt erst mal drüber nachdenken …“ Ich war mir tatsächlich nicht sicher, ob das nun wirklich Uli Hoeneß in der Leitung ist. Er aber fuhr fort: „Jetzt denkst du darüber mal nach.“ Als er aufgelegt hatte, realisierte ich erst, was da gerade passiert ist.

Frage: Und das war?

Kahn: Dieses Gefühl, das ich verspürte, ist schwer in Worte zu fassen. Ich bekam die Möglichkeit, zu dem Klub zu wechseln, den ich immer bewundert, dessen Glanz mich immer angezogen hatte. Der Verein der großen Jungs wie Franz Beckenbauer, Gerd Müller und eben Sepp Maier. Nun sollte auch ich die Chance bekommen, selbst Teil dieser Geschichte zu werden. Das war für mich überwältigend. Ich musste in Wahrheit keine Sekunde überlegen. Für mich war sofort klar: Natürlich gehst du dahin!

Frage: Wer zu Bayern geht, macht sich auch Feinde …

Kahn: Darüber gibt es ja sogar ein Lied von den „Toten Hosen“. In einer Passage darin heißt es: „Was für Eltern muss man haben, um so verdorben zu sein, einen Vertrag zu unterschreiben, bei diesem Scheißverein?“ Ich weiß noch, dass meine Eltern über dieses Lied total sauer und beleidigt waren, als es erschien. Auch an die Fan-Reaktion in Karlsruhe kann ich mich gut erinnern, als meine Entscheidung zum Wechsel publik geworden war. Wir hatten mit dem KSC 1993/94 diese tolle Saison, in der wir uns bis ins Uefa-Cup-Halbfinale spielten. Uli Hoeneß hatte vorher aus Karlsruhe schon Mehmet Scholl, Michael Sternkopf und Oliver Kreuzer geholt. Als bekannt wurde, dass ich nun ebenfalls zum FC Bayern gehen würde, reagierten die Fans tief enttäuscht. Ich wurde bei meinem ersten Training, nachdem das rausgekommen war, von den KSC-Anhängern bei jedem Ballkontakt im Training ausgepfiffen. Das war schon hart. Aber wenn du so eine Chance nicht nutzt, ist dir auch nicht mehr zu helfen.

Frage: Nach 19 Jahren Karlsruhe folgten 14 Jahre beim FC Bayern: Was war für Sie der größte Unterschied, als Sie 1994 in München anfingen?

Kahn: Der enorme Anspruch und die Ausstrahlung dieses Klubs. Ich weiß noch, wie ich zum ersten Mal in den Bayern-Bus stieg und auf das Logo schaute, das darauf gemalt war. Otto Rehhagel hatte mal gesagt: „Wer beim FC Bayern unterschreibt, sollte genau wissen, was er da getan hat.“ Das wurde mir in diesem Moment erst richtig bewusst. Der Mythos des FC Bayern ist ja bereits in den goldenen 70ern entstanden, als die Mannschaft dreimal in Folge den Europapokal der Landesmeister gewann. Das spürst und atmest du in diesem Verein an jeder Ecke.

Frage: Woran kann man diesen Unterschied zu anderen Bundesliga-Klubs festmachen?

Kahn: Um ein Beispiel zu nennen: Mit dem KSC fuhren wir mal zu einem Auswärtsspiel bei Werder Bremen, als einer der älteren Spieler im Bus zu mir sagte: „In Bremen haben wir noch nie etwas gerissen. Wenn wir heute nicht höher als 0:1 verlieren, wäre das schon okay.“ Beim FC Bayern ist dagegen das Selbstverständnis, dass du jedes Spiel gewinnen musst. Wohlgemerkt: nicht gewinnen kannst, sondern musst! Das ist für einen jungen Spieler schon ein riesiger Anspruch, der dich von Anfang an unter Druck setzt. So wie auch die Legenden, die vor dir dieses Trikot trugen. Du bist zum Erfolg verpflichtet. Du willst nicht derjenige sein, der in dieser langen Serie von Legenden an den Erwartungen scheitert.

Frage: Wie ist das, wenn man in einen Klub kommt, in dem einem permanent die Legenden wie Maier, Müller oder Beckenbauer auf dem Trainingsgelände an der Säbener Straße begegnen?

Kahn: Natürlich willst du dir nichts anmerken lassen, aber der Respekt ist schon riesengroß. Das ist etwas, mit dem nicht jeder Spieler zurechtkommt. Mein Vater hat zu mir gesagt: Im Fußball gibt es verschiedene Stufen. Eine ist: Bundesliga-Fußballer bei einem normalen Verein zu sein. Dann gibt es die Stufe: Bundesliga-Fußballer bei einem Topverein. Und schließlich die Stufe: Nationalmannschaft. Wenn du beim FC Bayern spielst, bist du zwar ganz oben auf dieser Treppe angekommen. Aber du bist trotzdem gefordert, immer weiter über dich hinauszuwachsen. Sonst brauchst du erst gar nicht beim FC Bayern anzutreten. Aber so ist das nun mal in einem Topklub. Der Klub gibt dir die Möglichkeit, die Weltbühne des Fußballs zu betreten. Nutze sie – oder eben nicht. Oder etwas martialisch formuliert: Friss oder stirb!

Frage: Wie würden Sie den Mythos FC Bayern beschreiben?

Kahn: Der Mythos FC Bayern speist sich aus starken Charakteren, die für die Identifikation wichtig sind. Dazu kommen sportliche Ereignisse, die sich tief bei den Menschen einprägen und die sie mit diesen Charakteren verbinden. Mich sprechen heute noch Menschen auf die emotionale Meisterschaft 2001 an, als wir in Hamburg in letzter Minute den Titel holten, der vorher schon verloren geglaubt war. Wie kann man in dieser 94. Minute noch Deutscher Meister werden? Der FC Bayern hat es gezeigt. Das ist Mythos pur.

Frage: Manche sprechen auch gerne vom Bayern-Bonus.

Kahn: Bayern-Bonus – wenn ich das immer höre! Komischerweise gibt es diesen angeblichen Bayern-Bonus bereits seit Jahrzehnten. So wie den sogenannten Bayern-Dusel. Ob Bayern-Bonus oder -Dusel – für beides gilt: Dieses vermeintliche Glück wird dir nicht auf dem Silbertablett präsentiert, du musst es dir erzwingen.

Frage: Wie groß ist der Anteil des FC Hollywood am Mythos FC Bayern?

Kahn: Den FC Hollywood hätte es wohl nie gegeben, wenn der FC Bayern nicht so viele Persönlichkeiten mit ganz großen Egos in diesem Klub zusammengekauft hätte. Bei uns in den 90er-Jahren waren es allerdings selbst für Bayern-Verhältnisse wirklich viele. Dazu kam es damals auch zu einer Veränderung in der medialen Berichterstattung. Mit der neuen Fußball-Sendung „ran“, die Reinhold Beckmann 1992 ins Leben gerufen hatte, ging die Berichterstattung plötzlich weit über den Sport hinaus. Die Geschichten der Spieler wurden mehr und mehr in den Mittelpunkt gestellt. Da hat der „FC Hollywood“ natürlich perfekt in die Zeit gepasst. Das Ganze entwickelte eine gewisse Eigendynamik. Im Rückblick zeigte das Modell aber auch, dass ein Kader, bei dem die Mischung aus Kollektivspielern, Individualisten, Führungs- und Starspielern nicht passt, kaum funktionieren kann. Wir waren zwar nicht unerfolgreich, gewannen immerhin den Uefa-Cup, den Franz Beckenbauer ja als „Cup der Verlierer“ betitelte, aber die großen Erwartungen haben wir nicht erfüllt.

Frage: Sie haben das Bild des neuen Profis mit Ihrem Gucci-Beutel geprägt, in dem Sie Ihr Duschzeug unterm Arm aus der Kabine trugen.

Kahn: Uns Spielern war das damals noch gar nicht bewusst, dass die Öffentlichkeit sich nun mit solchen Details rund um unsere Person beschäftigen würde. Wir waren da ehrlich gesagt fast ein wenig naiv. Es gab damals ja noch kein Social Media. Du hast einfach gemacht, was du auch zuvor immer getan hast. Nur plötzlich wurde auch darüber berichtet, was du abseits des Rasens machst. Interessanterweise war im Zuge des „FC Hollywood“ und der damit einhergehenden Berichterstattung das Olympiastadion fast immer ausverkauft. Es war sicher auch ein Wendepunkt für den Fußball, der einerseits neue Gruppen von Fans in seinen Bann zog, anderseits kam ich mir manchmal wie ein Zirkuspferd vor.

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