Diktator macht Jagd auf Jugendliche – unter bösem Vorwand | ABC-Z
San Salvador/Jiquilisco. Nayib Bukele nennt sich selbst „der coolste Diktator der Welt“, doch er geht wahllos und brutal gegen die Jugendlichen im Land vor.
Wenn Ana Rodríguez die Geschichte ihres Sohnes erzählt, dann schwingt in jedem Wort tiefer Schmerz mit, immer wieder bricht ihre Stimme. Das Haar zusammengebunden, sitzt sie auf einem roten Plastikstuhl in ihrer Hütte. Der Boden aus Lehm, das Dach aus Wellblech. Auf dem Schoß ein gerahmtes Bild ihres Kindes, an das sie sich klammert. Zu Beginn des Gesprächs bittet die 43-Jährige, ihren wirklichen Namen und den ihres Sohnes nicht zu nennen. Auch Fotos lehnt die Mutter ab. Zu groß ist die Angst vor Repressalien der Polizei. Ihren Sohn soll man Inocente nennen, was auf Deutsch unschuldig heißt. „Das war er ja.“
Wie ein Horrorfilm in Endlosschleife läuft jedes Detail des 17. April 2022 in ihrem Kopf ab: Der Sohn liegt gegen 19 Uhr in der Hängematte, als drei Polizisten plötzlich die Hütte in Jiquilisco im Departement Usulután im Süden von El Salvador stürmen. Sie werfen Inocente zu Boden und beschuldigen ihn, Mitglied einer der berüchtigten Jugendbanden, der „Maras“, zu sein. Immer wieder fragen sie ihn, wo er die Waffen in der Hütte versteckt hat. Die Polizisten finden keine Waffen, aber legen den 22-Jährigen dennoch in Handschellen und führen ihn ab. „Es war ein Alptraum“, erinnert sich die Mutter.
Inocente arbeitete als Hilfsarbeiter im Bausektor. Mit den „Maras“ habe er nie etwas zu tun haben wollen. Ja, sie hätten versucht, ihn zu rekrutieren, aber er habe das abgelehnt und sich dann sogar freigekauft.
El Salvador: Im Zweifel gilt die Schuld-, nicht die Unschuldsvermutung
Fälle wie der von Inocente Rodríguez passierten in El Salvador quasi jeden Tag, versichern Menschenrechtler. Überall im Land könne einen das Schicksal ereilen. Meist seien es männliche Jugendliche oder junge Erwachsene, bisweilen aber auch noch Kinder, die daheim, auf der Straße, dem Schulhof, beim Essen im Restaurant oder beim Sport unter irgendeinem Vorwurf wie Waffenbesitz oder „Bildung einer kriminellen Vereinigung“ weggeschafft würden.
Möglich macht all das der seit mehr als zwei Jahren geltende Ausnahmezustand, mit dem Präsident Nayib Bukele sein Sicherheitskonzept im Kampf gegen die Organisierte Kriminalität rigoros umsetzt. Polizei und Militär haben freie Hand. Beamte greifen willkürlich junge Männer auf, es gilt im Zweifel die Schuld- und nicht die Unschuldsvermutung.
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El Salvador, so groß wie Hessen, litt jahrzehntelang unter der Gewalt der „Maras“. Sie bildeten sich in den 1980er-Jahren aus Jugendlichen, deren Familien vor dem Bürgerkrieg in die USA geflohen waren und später wieder in die Heimat deportiert wurden. Vor allem die „18“ und die „Mara Salvatrucha“ (MS-13) terrorisierten die Bevölkerung mit Morden und Schutzgelderpressungen, dominierten den Drogenhandel. Die Banden waren Staat im Staat. Zeitweise wurde ein Mensch pro Stunde ermordet.
El Salvador: 82.000 Jugendliche und Männer festgenommen
Auslöser des Ausnahmezustands war ein Blutbad am letzten Märzwochenende 2022. Die „Maras“ töteten zwischen Freitag und Sonntag 87 Menschen im ganzen Land. Menschenrechtsorganisationen vermuten, ein geheimer Pakt zwischen dem Präsidenten und den „Maras“ sei gebrochen.
Hauptstadt Inside von Jörg Quoos, Chefredakteur der FUNKE Zentralredaktion
Hinter den Kulissen der Politik – meinungsstark, exklusiv, relevant.
Im von seiner Partei dominierten Kongress beantragte Bukele umgehend die Zwangsmaßnahmen. Polizisten und Soldaten durchkämmten daraufhin Stadt und Land nach Anführern und Pistoleros von „MS-13“ oder „18“. Auch wer auffällig tätowiert war, wanderte erstmal in den Knast.
Bukele ließ ein Hochsicherheitsgefängnis für 70.000 Inhaftierte bauen, schickte Bilder von halbnackten, auf dem Boden hockenden Häftlingen in weißen Unterhosen um die Welt. „Dies wird ihre neue Heimat sein, in der sie jahrzehntelang leben werden, ohne der Bevölkerung weiteren Schaden zuzufügen“, triumphierte er. Bis heute wurden laut offizieller Zahlen nahezu 82.000 Jugendliche und Männer wegen angeblicher oder nachgewiesener Bandenmitgliedschaft festgenommen.
Nayib Bukele: Amtsgeschäfte führt der Mann mit Hipsterbart über soziale Netzwerke
Aus seiner Sicht kam Bukele seinem Auftrag als Staatschef nach. Ob linke oder rechte Regierungen – der Staat war über Jahrzehnte der Gewalt nicht Herr geworden. Deshalb wählten die Menschen den Sohn einer wohlhabenden Familie palästinensischer Einwanderer vor fünf Jahren überraschend ins Amt. Der heute 43-jährige gelernte Werbefachmann kam so anders daher als die traditionellen Anzugträger im Staatsamt. Bukele sieht mit Hipsterbart, Baseballmütze und Lederjacke anders aus, er regiert anders, führt die Amtsgeschäfte fast nur über die sozialen Netzwerke. Und internationale Investoren lockt er, indem er versucht, den Bitcoin zur Parallelwährung zu machen.
Sich selbst nennt Bukele den „coolsten Diktator der Welt“. Aber hinter dem Präsidenten im Kostüm des bunten Vogels steckt ein knallharter Autokrat, der immer deutlicher seine diktatorischen Ambitionen offenbart. Er hat den Rechtsstaat abgebaut, die Institutionen gleichgeschaltet, Soldaten im Parlament aufmarschieren lassen und sogar die Verfassung gebeugt, um sich im vergangenen Februar wiederwählen zu lassen. Und er geht immer rücksichtsloser gegen die verbliebene linke Opposition vor.
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Binnen gut zwei Jahren ist El Salvador vom Land mit der weltweit höchsten Mordrate zu dem mit der vermutlich höchsten Inhaftierungsrate geworden: Fast zwei Prozent der Bevölkerung sitzt im Gefängnis. Hinter Gittern gehörten Erniedrigung, Folter und die totale Entrechtung zur Strategie, kritisiert David Morales von der Menschenrechtsorganisation Cristosal. „Die Inhaftierten haben keine Aussicht auf ein faires Verfahren, bekommen kaum Rechtsbeistand oder Besuch von Angehörigen, Massenverfahren per Video sind die Regel. Es ist eine systematische Verletzung der Menschenrechte.“
Mehrheit der 6,3 Millionen Salvadorianer befürwortet Bukeles Politik
Und die Repression dauert fort. Sie trifft aber längst nicht mehr nur die „Maras“. Gefährdet sind junge Menschen von 18 Jahren an aufwärts. Derzeit würden noch immer 500 Jugendliche im Monat festgenommen, schätzen Menschenrechtsorganisationen. So gut wie keiner von ihnen habe Bezug zu den Banden.
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So schockierend die Berichte der Opfer des Ausnahmezustands sind – die Mehrheit der 6,3 Millionen Salvadorianer befürwortet Bukeles Politik noch. Für die Bevölkerung ist der Verzicht auf Bürger- und Menschenrechte, auf demokratische Grundregeln und Gewaltenteilung offenbar kein zu hoher Preis, wenn auf der Habenseite ein Leben ohne Angst und in Sicherheit steht.
So dachte auch Ana Rodríguez in Jiquilisco, bis die Polizisten ihren Sohn Inocente verschleppten. Es folgten 19 Monate der Angst. Am 23. November des vergangenen Jahres bestätigen sich dann die schlimmsten Befürchtungen: Die Gerichtsmedizin bringt Inocentes Leichnam, legt ihn kommentarlos zu Hause ab. „Sein Körper war mit Nähten übersät“, sagt die Mutter unter Tränen. „Ihm fehlten Herz und Nieren.“
Nach Angaben des Menschenrechtsinstituts der Universität UCA sind während des Ausnahmezustands bisher 300 Häftlinge gestorben. Aber selten sähen die Körper der Toten so aus wie der von Inocente Rodríguez, unterstreicht Salvador Ruiz vom „Komitee der Angehörigen von Opfern des Ausnahmezustands“, dessen Organisation vom kirchlichen Lateinamerika-Hilfswerk Adveniat in Essen unterstützt wird. War es Organhandel? Die Frage quält Ana Rodríguez jeden Tag. „Der größte Verbrecher dieses Landes“, sagt die Mutter voller Bitterkeit, „sitzt im Präsidentenpalast.“