Wirtschaft

Dieser Italiener glaubt, er lebt im Jahr 1980 | ABC-Z

Die unglaubliche Lebens­geschichte des Luciano D’Adamo bewegt Italien. Der 67 Jahre alte Römer erinnert sich genau, was er am 20. März 1980 getan hat. „Ich war 24 Jahre alt, ich arbeitete am Flughafen Fiumicino, war beim Bodenpersonal angestellt“, sagte er der Zeitung „Il Messaggero“. Nach der Arbeit sei er nach Hause gefahren, zu seinen Eltern, bei denen er seinerzeit noch gewohnt habe. Später sei er nochmals aus dem Haus gegangen. Dann folgt ein Filmriss. Von 39 Jahren Länge.

Was ihm vom März 1980 bis zu ­jenem verhängnisvollen Tag im Jahr 2019, der sein Leben verändern sollte, widerfahren ist, hat D’Adamo vollständig vergessen. Ursache für den Gedächtnisverlust war ein Verkehrsunfall. Beim Überqueren einer Straße im Herzen Roms wurde er von einem Auto angefahren und erlitt dabei so schwere Kopfverletzungen, dass er ins Koma fiel. Der Unfallverursacher ­be­ging Fahrerflucht und konnte nie ermittelt werden.

„Wie kann ein älterer Mann mein Sohn sein?“

Als D’Adamo nach Tagen im Krankenbett einer Klinik in Rom erwachte, glaubte er, er sei wieder – beziehungsweise immer noch – 24 Jahre alt und habe eine 19 Jahre alte Verlobte, die er bald heiraten werde. In der Klinik fragten ihn die Schwestern nach der Handynummer der nächsten Angehörigen. Er gab ihnen die Nummer des Festnetzanschlusses seiner Mutter.

Wenige Stunden später wurde ihm Besuch angemeldet, eine ältere Frau und ein Herr von 35 Jahren. D’Adamo erwartete seine Mutter, die aber längst verstorben war. Er sah sich einer Fremden gegenüber, die ihn „Luciano!“ rief und umarmte. Es war seine Ehefrau. Auch der unbekannte junge Mann habe ihn umarmt und ihm gesagt, er sei sein Sohn. „Wie kann ein Mann, der offenkundig lange vor mir geboren wurde und viel älter ist als ich, mein Sohn sein?“, habe er sich gefragt, berichtete D’Adamo der Zeitung. Und wieso Ehefrau? „Ich war doch nur verlobt.“ Mit einem 19 Jahre alten Mädchen, das er in vier Monaten heiraten würde.

Als er sein Gesicht im Spiegel sah, schrie er

Als er schließlich im Krankenhaus sein Gesicht im Spiegel gesehen habe, sei ihm ein Schrei aus der Kehle gefahren. Die Pfleger seien herbeige­laufen, hätten ihn gefragt, was geschehen sei. Doch ihm habe es zunächst buchstäblich die Sprache verschlagen. Denn im Spiegel habe er das Gesicht eines Manns mit ergrautem Haar und einem vom Alter gezeichneten Gesicht gesehen. Die Schwestern hätten ihm dann gesagt, der Unfall habe sich nicht 1980 im Stadtteil Monte Mario unweit seiner Eltern, sondern 2019 nahe der Wohnung seiner eigenen Familie ereignet. Offenbar habe er durch die Kopfverletzung die Erinnerung an 39 Jahre seines Lebens verloren.

Die zwei Meistertitel des Fußballklubs AS Rom 1983 und 2001, dem D’Amado als Tifoso seit je treu ergeben ist, dazu die Weltmeistertitel der Squadra Azzurra von 1982 und 2006 – alles vergessen. Die politische Epoche des Mehrfachregierungschefs Silvio Berlusconi, das Ende des Kalten Kriegs und die Terroranschläge vom 11. September 2001 – alles weg. „Ich erinnere mich noch an das Erstaunen, als ich nach dem Unfall zum ersten Mal wieder in einem Auto gefahren bin“, berichtete D’Amado dem „Mes­saggero“: „Auf einem kleinen Bildschirm war die Landkarte von Rom zu sehen, und eine Stimme sagte: ,Rechts abbiegen in 1000 Metern‘.“ Er habe sich wie in einem Science-Fiction-Film gefühlt.

Bruchstücke von Erinnerungen

In den knapp fünf Jahren seit dem Unfall hat D’Amado Bruchstücke von Erinnerungen auszugraben und zusammenzusetzen versucht. Doch aus den Tiefen seines Gedächtnisses hätten allenfalls einige Blitze aufgeleuchtet. „Einige Bilder tauchten immer wieder auf: die Zeichnung eines Storchs, der Name Matteo auf einem Schild, ein Datum, eine Uhrzeit, die Zahl 2300.“ Sein Sohn und seine Schwiegertochter fügten die Puzzleteile zusammen: Es waren Tag und Zeit der Geburt von Enkel Matteo, der kurze Zeit vor dem Unfall seines Opas zur Welt gekommen war und 2300 Gramm auf die Waage gebracht hatte.

Luciano D’Amado hat längst akzeptiert, dass er fast sein gesamtes Leben als erwachsener Mann „verloren“ hat. Davide Quaranta, Neurologe an der Gemelli-Klinik und Professor für Neu­ropsychologie und kognitive Neurowissenschaften an der Katho­lischen Universität Rom, bezeichnet seine Gedächtnislücke als „sehr selten und atypisch“. Gewöhnlich gehe bei Kopfverletzungen nur die unmittel­bare Erinnerung an den Augenblick des Traumas und an die Zeit kurz ­davor ver­loren. „Dieser Fall stellt ­sicherlich ei­ne Anomalie dar“, sagt Quaranta. „Aus neuropsychologischer Sicht verdient er eine eingehende Untersuchung, weil sich die retro­grade Amnesie über einen so langen Zeitraum erstreckt.“

Back to top button