Die vermeintlichen Gefahren von Antidepressiva bei Demenz |ABC-Z

Neben Gedächtnisverlust leiden Demenzkranke auch an Schlafstörungen, fehlender Motivation und Angst. Um die Symptome zu lindern, verschreiben Mediziner in schweren Fällen Medikamente. Doch deren Nutzen ist umstritten. Schwedische Forscher warnen gar vor kognitivem Abbau.
Demenzkranke, die Mittel gegen Depressionen einnehmen, bauen kognitiv schneller ab als Betroffene ohne diese Behandlung. Das ist das erschütternde Ergebnis einer im Fachjournal „BMC Medicine“ veröffentlichten Studie aus Schweden.
Die Studie legt die Probleme der derzeitigen therapeutischen Maßnahmen offen. Denn klar ist: Wer an Demenz erkrankt, bei dem schreitet nicht nur der Gedächtnisverlust voran. Gerade die häufigste Demenzerkrankung, die Alzheimer-Krankheit, zersetzt auch jene Regionen im Gehirn, die den Schlafrhythmus, die emotionalen Kontrolle oder Motivation kontrollieren.
Hinzu kommen Isolation – und die Angst vor dem zunehmenden kognitiven Verlust, die viele Patienten mit dem fortschreitenden Verlauf ihrer Krankheit erleben. Die Folge: Bei etwa vier von zehn Erkrankungen treten psychischen Auffälligkeiten auf.
Medikamente nicht die erste Wahl
Um die Schwermut und Angstzustände zu behandeln, haben Mediziner in Deutschland zwei Mittel zur Hand. Solange es der Zustand der Patienten erlaubt, sollen Psycho- und Bewegungstherapie eingesetzt werden. Wenn diese Maßnahmen aber nicht anschlagen, empfiehlt die medizinische Leitlinie zur Behandlung von Demenzen, Antidepressiva zu verabreichen. Dazu zählen die Wirkstoff Mirtazapin und Sertralin, die sowohl stimmungsaufhellend als auch angstlindernd wirken.
Doch der Nutzen von Antidepressiva in der Depressionsbehandlung von Demenzkranken ist in Fachkreisen durchaus umstritten, die Studienlage gilt als limitiert. Die Gruppe um Sara Garcia Ptacek, Neurologin am Karolinska-Universitätsklinikum in Solna, hat nun den Zusammenhang unterschiedlicher Antidepressiva-Verschreibungen mit der kognitiven Funktion bei Demenzkranken untersucht.
Dazu werteten die Schweden die Krankheitsdaten von insgesamt 18.740 Demenz-Patienten aus, die zwischen 2007 und 2018 in einem nationalen Register gesammelt wurden. Etwa ein Viertel der Patienten bekam im zeitlichen Zusammenhang mit der Diagnose ein Antidepressivum verabreicht. Mithilfe eines Tests ermittelten die Mediziner schließlich die kognitive Leistungsfähigkeit. Das Resultat: Die geistige Fitness der Dementen, die ein Antidepressivum einnahmen, nahm schneller ab als bei jenen, die keine entsprechenden Mittel erhielten.
Dabei zeigten sich auch Unterschiede zwischen den verschiedenen Medikamenten: So scheinen die sogenannten Serotonin-Wiederaufnahmehemmer, zu denen auch Sertralin gehört, mit einem schnelleren Verlust der kognitiven Leistungsfähigkeit einherzugehen. Diese Präparate sorgen dafür, dass der Botenstoff Serotonin länger im Gehirn wirken kann. Hingegen hatte das Medikament Mirtazapin, das einen anderen Wirkmechanismus hat, offenbar weniger negative Auswirkungen.
Keine Kausalität
Steht damit ein Behandlungsprinzip infrage? Experten aus Großbritannien und Deutschland warnen vor falschen Schlüssen und fehlender Kausalität bei den Ergebnissen. Klaus Ebmeier, Experte für Alterspsychiatrie an der University of Oxford, merkt zwar an, es sei nicht auszuschließen, dass Antidepressiva möglicherweise auch negative Auswirkungen auf kognitive Leistungen haben könnten. Allerdings sei es durchaus möglich, „dass erhöhte Sterblichkeit und Fallverletzungen eher mit der Verschlechterung der Demenz selbst, als dem damit verbundenen Verschreiben von Antidepressiva zusammenhängen“.
Doch die Studie scheint eher den Missstand zu unterstreichen, dass effektive Behandlungsmöglichkeiten fehlen. „Dieser Mangel führt dann gerade in den schwersten Fällen zur Verschreibung der anscheinend ‚harmlosesten‘ Medikamente“, erläutert Ebmeier.
Auch Frank Jessen, Direktor der Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Uniklinikums Köln, kritisiert die schwedische Untersuchung. Der Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie und Leiter der Arbeitsgruppe Klinische Demenzforschung erklärt: „Aufgrund der Methodik der Studie lässt sich nicht unterscheiden, ob Antidepressiva oder aber das Vorliegen einer Depression an sich einen negativen Einfluss auf den Verlauf einer Demenz haben.“
Andere Publikationen kommen gar zum gegenteiligen Schluss – und weisen darauf hin, dass Antidepressiva Menschen mit Demenz vor dem Fortschreiten der Erkrankung schützen können. Etwa konnten deutsche Psychologen im Fachmagazin „The American Journal of Psychiatry“ 2017 belegen, dass die Behandlung mit selektiven Serotonin-Wiederaufnahme-Hemmern den kognitiven Abbau verlangsamt.
Das bestreiten auch die Autoren der aktuellen Studie nicht. „Depressive Symptome können sowohl den kognitiven Abbau verschlimmern als auch die Lebensqualität beeinträchtigen, weshalb es wichtig ist, sie zu behandeln. Unsere Ergebnisse können Ärzten und anderen Fachleuten im Gesundheitswesen helfen, Antidepressiva auszuwählen, die besser auf Patienten mit Demenz abgestimmt sind“, erklärte Sara Garcia Ptacek.
Der Kölner Demenz-Experte Jessen sagt: „Aufgrund der unklaren Datenlage ist es wichtig, Menschen mit einer Demenz und einer Depression nicht eine Behandlung mit einem Antidepressivum vorzuenthalten oder sie durch falsche Beratung zu verunsichern.“
Wiebke Bolle ist Wissensredakteurin, sie schreibt über Psychologie, Gesundheit und Gesellschaft. Zudem moderiert sie als Co-Host den Podcast „Aha! Zehn Minuten Alltags-Wissen“.