Die sieben Trümpfe des Wladimir Putin | ABC-Z

Am Dienstag treffen sich die 32 Nato-Staaten zu ihrem wichtigsten Gipfel seit Ende des Kalten Krieges. Es geht um viel Geld, aber vor allem um die Zukunft Europas.
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Morgen versammeln sich in Den Haag die Staatschefs aller 32 Nato-Länder, um eine historisch einmalige Erhöhung ihrer Militärausgaben zu besprechen. Dafür ist ein Mann verantwortlich, der gar nicht mit am Tisch sitzt: Wladimir Putin.
Die Welt rüstet auf – gedanklich, sprachlich, militärisch. Und das hat eben nicht mit einem angeblich kriegstreiberischen Westen zu tun, wie zuletzt ein paar SPD-Granden in einem pazifistischen „Manifest“ beklagten. Treiber ist vor allem der Herr im Kreml, der am Wochenende erneut seine Ziele klargemacht hat: „Wo der Fuß eines russischen Soldaten steht, das gehört uns“, sagte er auf einem Wirtschaftsforum in Sankt Petersburg. Russland und die Ukraine seien ein Volk. „In diesem Sinn ist die ganze Ukraine unser.“
Und vielleicht nicht nur die. Vom Georgien-Krieg 2008 über die Annexion der Krim 2014 bis zum Beginn des Angriffskriegs gegen die Ukraine vor über drei Jahren zieht sich eine Blutspur der Expansionslust durch seine Gedanken, die Putin gern in vielen Bedrohtheits-Erzählungen variiert: „Die sogenannte westliche Welt will Russland zerstören. Sie greifen unsere traditionellen Werte an und versuchen, uns zu zwingen, nach ihren Regeln zu leben.“
Russlands Militärmacht ist erdrückend
Man kann ihm glauben oder es ihm als Ausrede für seinen Imperialismus vorhalten – am Resultat einer zu allem bereiten Militärnation ändert es nichts. Der mittlerweile ausgefranste Krieg der USA und Israel gegen den Iran ist nicht unserer, der Krieg, den Russland in die Ukraine getragen hat, ist es durchaus. Und Putin hat dort gleich sieben Trümpfe in der Hand.
Erstens: Seine Militärmacht ist erdrückend, und sie wächst weiter. Allein seit 2022 wurde die Waffenproduktion verdoppelt, in manchen Bereichen verdreifacht. Rund acht Prozent seines Bruttoinlandsprodukts pumpt der Kreml mittlerweile in sein Militär. Die aktuell wieder steigenden Ölpreise helfen bei der Finanzierung, auch wenn die russische Wirtschaft gerade mal wieder schwächeln mag.
Der Brüsseler Thinktank Bruegel rechnete jüngst vor, dass die Jahresproduktion neuer Panzer in Polen, Frankreich, Deutschland und Großbritannien zusammen bei aktuell nur etwa 50 Stück liege. Fünfzig! Die russische dagegen bei über 1700. Für andere Waffengattungen sind die Zahlen ähnlich bedrohlich. Fachleute gehen davon aus, dass Russland schon ab 2029 ein Nato-Land angreifen könnte.
Selbst eine Waffenruhe in der Ukraine würde Putin helfen
Putins zweiter Vorteil: Seine Kriegsmaschine läuft so hochtourig, dass selbst ein Waffenstillstand in der Ukraine ihm helfen würde, denn das hieße ja: weniger Ausfälle im Bestand der verfügbaren Truppe. Verfügbar für was?
Sein dritter Trumpf ist ein geostrategischer: Er könnte mit relativ wenig Aufwand die dünn besiedelte und nur 65 Kilometer breite „Suwałki-Lücke“ zwischen Polen und Litauen erobern. Das ist die einzige direkte Landverbindung zwischen Nato-Europa und den drei baltischen Staaten, deren Selbstständigkeit Putin übrigens ebenso wenig gelten lässt wie die der Ukraine.
Wenn er diese Lücke aufreißt, wäre das Baltikum abgeschnitten. Und er hätte zugleich einen direkten Anschluss zu seiner Ostsee-Exklave Kaliningrad, wo schon jetzt mutmaßlich Hunderte von Atomsprengköpfen lagern, die in wenigen Minuten nicht nur Deutschland erreichen können.
Europas Uneinigkeit ist seine Stärke
Warum reagiert der Westen auf all das bislang so zögerlich? Weil Europa – und das ist Putins vierter Trumpf – militärisch schwach und politisch weiterhin konsequent uneins ist. Nur ein Beispiel: Wir haben fast 180 verschiedene Waffensysteme, Russland nur einen Bruchteil davon. Das macht seine Produktion viel billiger und effizienter.
Deutschland hat zwar sein 100 Milliarden Euro schweres „Sondervermögen“ inzwischen ausgegeben. Aber außer ein bisschen Unterwäsche und ein paar Nachtsichtgeräten ist da – überspitzt formuliert – noch nicht viel geliefert worden. Fast 80 Prozent des Budgets gaben wir überdies zuletzt für nicht-europäische Systeme aus, etwa die teuren F-35-Kampfjets aus den USA, womit wir bei Putins fünftem Trumpf sind.
Wie auch das Weiße Haus dem Kreml hilft
Es war Donald Trump, der Putin auf die Weltbühne zurückgeholt hat und ihn mit Bedeutung auflud. Ein US-Präsident, der mit dem Kreml-Chef über die Köpfe seiner europäischen Nato-Partner hinweg verhandelt, denen er obendrein regelmäßig die Freundschaft aufzukündigen droht, ist das größte Geschenk für Putin. Das verschafft ihm Augenhöhe und Reputation im Rest der Welt, wo er – Trumpf Nummer sechs – ohnehin nicht allein ist.
In Sankt Petersburg hat Putin auch angekündigt, die technisch-militärische Zusammenarbeit mit befreundeten Ländern zu verstärken. Dazu gehören Indien, China, Indonesien, Vietnam, große Teile Lateinamerikas, Afrikas … Zählen Sie gern mal zusammen, wie groß der Anteil von Putins Partnernationen an der Weltbevölkerung ist! Da wird Ihnen schwummrig.
Albanien oder Montenegro werden uns nicht retten
Dagegen wirken wir hier dann doch sehr klein – auch in unseren Debatten: Hierzulande ist ja schon die Rückkehr der Wehrpflicht ein Trigger-Thema. Dabei bräuchte die Bundeswehr dringend Zehntausende von zusätzlichen Soldaten. Nato-Partner wie Albanien oder Montenegro werden uns im Ernstfall leider nicht helfen können, wenn die USA ausfallen.
Putins siebter Trumpf ist deshalb – so sieht er es zumindest selbst, und das sollte man schon ernst nehmen, denn es befeuert ihn zu Hause: Der Westen verfällt – politisch, ideell, moralisch. Auch das hat er ganz aktuell in Sankt Petersburg wieder deutlich gemacht.
Wann tun wir mal was dafür, dass er nicht recht behält? Ein paar Trümpfe zumindest könnten wir ihm aus der Hand nehmen, wenn wir die Bedrohung endlich ernst nähmen.
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