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Die Kraft der Natur im Schweizer Endgadin | ABC-Z

Hier habe sie neulich einen Steinbock getroffen. Tatsächlich kommen die eindrucksvollen Paarhufer in diesem Sommer gern runter in das Bergdorf Pontresina im Oberengadin, weil auf den Bergen rundherum durch die kalte Witterung noch Schnee liegt. Hier unten finden sie in den Morgenstunden dann in Ruhe noch frisches Gras. „Und dann steht da plötzlich so ein großes Tier, scheinbar ohne Scheu und schaut dich an“, von ihrer Begegnung mit der fast ausgestorbenen Tierart erzählt Flurina Caviezel mit glänzenden Augen.

Die sportliche Mittvierzigerin mit den stahlblauen Augen führt Naturliebhaber durch ihre Heimat, das Schweizer Hochtal Engadin. Sie kennt hier jeden Baum und jeden Strauch und weiß, wofür oder wogegen der Nadelbaum, der hier Arve genannt wird, Schafgabe, Arnika und Co, helfen: „Meine Großmutter wusste alles über die Pflanzen hier im Engadin.“ Flurina, die wie alle hier immer die letzte Silbe des Ortsnamens betont, hat die Engadiner Pflanzenkunde aufgeschrieben und lehrt inzwischen Landsleuten und Besuchern, wie sie diese Heilkraft nutzen können.

Wer am Bahnhof in Pontresina mit der Rhätischen Bahn ankommt, hat bereits eine der schönsten Zugfahrten Europas hinter sich. Von Zürich aus geht es an glitzernden Bergseen vorbei mitten in die Bergwelt. Scheinbar unbemerkt steigt die stets pünktliche Schweizer Bahn auf bummelige 2000 Meter Höhe hinauf – vorbei an Wäldern, Schluchten, Hochtälern mit zackigen Gipfeln im Hintergrund. Chur, Samedan, Sankt Moritz sind die klingenden Orte, an denen umgestiegen wird. „Hier oben bitte immer mit hohem Schutzfaktor eincremen“, warnt Flurina eindringlich.

Dabei ist es im Wald doch schattig und die Sonne verschwindet gern mal hinter dicken Wolken. „Durch die saubere Luft und die Höhe ist die UV-Strahlung sehr stark“, das leuchtet ein und der Sonnenbrand am Abend, trotz Creme, bestätigt das. Wir wandern mit Flurina, die im zweiten Leben Marketing-Expertin ist und um die Welt fliegt, und lernen die Vorzüge des Arven-Baumes kennen. Das in Deutschland unter dem Namen „Zirbelkiefer“ bekannte Gewächs wird bis zu 1000 Jahre alt, floriert angeblich nur hier oben und in den Karpaten richtig, soll neben seiner Robustheit eine beruhigende Wirkung auf die menschliche Psyche haben. Engadiner Häuser hätten deshalb auch immer eine Arvenstube, in der es nach Sauna duftet und die im Sommer kühl und im Winter gemütlich warm ist.

Waldbaden ist deshalb im Engadin ein umwerfend sinnliches Erlebnis und macht fit. Anne-Marie Flammersfeld hat nicht nur die Wirkung, die das Walderlebnis auf Menschen hat, studiert, sie ist auch Weltmeisterin im Extrem-Lauf durch die größten Wüsten dieser Welt. „Hier oben finde ich alles, was ich zum Trainieren brauche“, erzählt sie. „Luft, Licht und der Duft der Bäume, die Terpene, die sie aussenden“, Anne-Marie ist Deutsche, wohnt aber seit einiger Zeit im benachbarten Sankt Moritz. Hier oben trainiert sie und arbeitet als Coach.

Überhaupt haben viele hier zwei Leben: Der Italiener Paolo Casanova zum Beispiel, der im Örtchen Madulain, nur ein paar Bahnkilometer von Pontresina entfernt, ein hoch­dotierten Sterne-Lokal eröffnet hat. Name: Stüva Colani. Das Restaurant des Sternekochs (unter anderem Green Chef of the Year 2024) liegt mit angeschlossenem Hotel (Casa Colani) in der kleinsten Gemeinde des Oberengadins. Madulain hat zwar einen eigenen Bahnhof, aber nur 230 Einwohner, ein gutes Dutzend Gasthäuser und einen Campingplatz mit Übernachtungsmöglichkeiten im Regenfass.

„Ich gehe in die Natur, um mich von der Arbeit zu erholen, und vor allem um mich inspirieren zu lassen“, erklärt Casanova. Der 36-Jährige Familienvater hat mit den bekanntesten Köchen der Welt zusammengearbeitet, hat in New York, Bahrein und Dubai Luxus-Restaurants geführt.

Jetzt macht er sein eigenes Ding: Er geht täglich raus auf die Engadiner Wiesen und sammelt Brennnesseln, Wegerich, Sauerampfer – für seine Alpen-Menüs. „Hier draußen finde ich fast alles, was ich für meine Küche brauche“, sagt er und beweist es anschließend in der Küche.

Zu einem Kefir aus Apfelschalen und Nelken serviert er kunstvoll frittierte Brennnesselblätter, ein Alpen-Poke mit Lärchensprossen und Soja sowie Leinkrautcreme mit Wegerich. Zum Dessert gibt es Kardamom Fior di Latte-Sorbet mit Sauerampfer Sauce. Aus Löwenzahnblüten mit etwas Zucker und einer Nelke zaubert er nebenbei eine Marmelade.

Die Kraft der Natur wird im Engadin nicht nur durch kreative Köpfe wie Paolo Casanova, Anne-Marie Flammersfeld und Flurina Caviezel lebendig. Bei der Gipfelfahrt auf den Muottas Muragl, auch Künstlerberg genannt, weil hier Maler und Philosophen ihre In­spiration fanden, liegt einem das komplette Engadin-Tal mit seinen vier Seen zu Füßen – im Hintergrund der einzige Viertausender der Ostalpen, Piz Bernina mit 4049 Metern. Mit Atemübungen kann man hier den Sonnenaufgang begrüßen. Giorgia Hauser zeigt, wie das geht. Sie ist Coach für Atem-Yoga, nebenbei arbeitet sie als Notfallsanitäterin. Auch sie hat zwei Leben, so wie alle Engadiner, die täglich die Kraft der Natur einatmen.

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