Die Hizbullah ist jetzt unberechenbarer | ABC-Z
Kurz nach dem Krieg von 2006 gab Hassan Nasrallah öffentlich zu, sich verkalkuliert zu haben: „Wenn Sie mich fragen, ob ich es getan hätte, wenn ich am 11. Juli gewusst hätte, dass die Operation zu einem solchen Krieg führen würde? Ich sage: ,Nein, absolut nicht‘“, erklärte er seinerzeit. Ein Kommando der Hizbullah, die er seit 1992 führte, hatte damals zwei israelische Soldaten verschleppt und mehrere getötet. Den zerstörerischen Krieg, den der Vorfall entfesselte, hatte die Hizbullah aber überstanden. Schon das überhöhte sie zum „heiligen Sieg“.
Nach dem monströsen Terrorangriff der palästinensischen Hamas auf Israel hat Nasrallah nun einen noch gravierenderen, für ihn tödlichen Fehler begangen: Am 8. Oktober 2023 eröffnete er eine zweite Front an der israelisch-libanesischen Grenze. Er wollte die Hamas entlasten. Und er legte sich darauf fest, erst dann über eine diplomatische Lösung zu verhandeln, wenn die Gewalt im Gazastreifen endet. Damit saß er in der Falle.
Am frühen Freitagabend erbebte die libanesische Hauptstadt Beirut: Israel hatte das unterirdische Hauptquartier der Hizbullah angegriffen. Am Samstagnachmittag bestätigte die Organisation Nasrallahs Tod in einer Stellungnahme. Er habe sich den „unsterblichen Märtyrern“ angeschlossen, hieß es in dem Text, der Nasrallah als mutigen und weisen Anführer pries – und es gab sogar eine Referenz an Imam Hussein, einen von den Schiiten tief verehrten Enkel des Propheten, dessen Opferbereitschaft für eine höhere Sache bewundert wird. Die Hizbullah kündigte an, den Kampf fortzusetzen: gegen Israel, für die Palästinenser.
Auch Teheran muss sich entscheiden
Nasrallah hatte darauf gesetzt, dass sich die Konfrontation mit Israel bändigen ließe, dass auch die israelische Regierung den Rahmen, in dem sie ausgetragen wurde, nur dehnen, aber nicht sprengen würde. Doch die Regierung von Benjamin Netanjahu trieb die Hizbullah zuletzt vor sich her und eskalierte den Konflikt drastisch. Der israelische Geheimdienst setzte der Hizbullah mit einer Sabotageaktion zu, indem er mit Sprengstoff präparierte Pager und Funkgeräte aus der Ferne zündete. Fast 3000 Hizbullah-Kämpfer wurden teils schwer verletzt, Dutzende getötet. Seit Beginn dieser Woche fliegt die Luftwaffe Angriffswelle auf Angriffswelle auf Hizbullah-Hochburgen in Libanon.
Der Schlag vom Freitag, bei dem die israelischen Streitkräfte nach Medienberichten bunkerbrechende Bomben einsetzten, hat die Hizbullah denkbar hart getroffen. Ein Angriff auf Nasrallah ist kein Angriff auf irgendeinen Milizführer. In der Anhängerschaft wurde er wie ein fürsorglicher Vater, bisweilen wie eine religiöse Erlöserfigur verehrt. Als er den jetzigen Libanon-Krieg anzettelte, war er auf dem Höhepunkt seiner Macht. Die Hizbullah dominierte Libanon. Nasrallah, schon seit 1992 an der Spitze der Miliz, war eine der bedeutendsten arabischen Führungspersönlichkeiten überhaupt. In der von Iran angeführten „Achse des Widerstands“, einer Allianz von Feinden Israels, hatte er eine hervorgehobene Stellung.
Auch das Regime in Teheran muss daher jetzt entscheiden, ob es auf den tödlichen Angriff auf Nasrallah mit Eskalation oder kühlem Kopf antwortet. Denn eigentlich dienen die Raketen der libanesischen Organisation dem iranischen Regime als eine Art vorgelagerte Verteidigungslinie im Falle einer direkten militärischen Konfrontation mit Israel. Der Oberste Führer des Regimes, Ali Khamenei, erklärte, alle Kräfte des Widerstandes stünden der Hizbullah zur Seite.
Die Führung muss einen Nachfolger wählen
Die Entscheidung dürfte auch beeinflussen, wie die Hizbullah weiter vorgeht. zuerst muss sich die Organisation von dem Schlag erholen, der ihr am Freitag versetzt wurde. Manche Experten sagen schon, ihr sei das Rückgrat gebrochen worden, aber andere sind mit solchen Schlüssen noch vorsichtig. „Der Tod von Nasrallah ist ein massiver, massiver Schlag gegen die Moral, und es wird sehr schwer für die Organisation, darüber hinwegzukommen“, sagt zwar Nicholas Blanford, ein Hizbullah-Fachmann von der amerikanischen Denkfabrik Atlantic Council, der seit Jahrzehnten in Libanon lebt. „Man muss aber auch festhalten, dass die Hizbullah weiter Raketen auf Israel abfeuert. Sie ist also weiter militärisch handlungsfähig.“
Theoretisch wählt die Führung jetzt einen Nachfolger, der die Geschäfte übernimmt. Als Nasrallah vor 32 Jahren das Ruder von Abbas Mussawi übernahm, der ebenfalls von Israel getötet worden war, dauerte das zwei Tage. Aber Mussawi kommandierte seinerzeit eine deutlich kleinere Organisation – und die Hizbullah stand nicht unter dem Überlebensdruck, unter dem sie heute steht.
Nasrallah wollte seine Feinde genau kennen
Viele aus der alten Garde und dem engsten Kreis um Nasrallah sind schon vor dem Angriff auf das Hauptquartier getötet worden: Fuad Shukr, der wichtigste Militärkader; Ibrahim Aqil, dessen Nachfolger; Ibrahim Muhammad Qubaisi, der die Raketenabteilung der Hizbullah kommandierte. Ali Karki, Kommandeur der Südlichen Front – also der israelischen Front – soll ebenfalls durch den Angriff vom Freitag getötet worden sein, so wie weitere Teile der verbliebenen Führung.
Die Hizbullah muss also jetzt mit einer deutlich unerfahreneren Führung zurechtkommen. Es ist offen, ob sich die Organisation jetzt in einen totalen Krieg wirft, oder ob sie zuerst an ihr langfristiges Überleben denkt. Nasrallah galt immer als ein „gemäßigter“ Anführer, als jemand, der jeden Schritt genau abwäge. Er selbst stellte sich gegenüber einem Biographen als jemand dar, der seine Feinde gut kennen will, der die Lebensläufe seiner Feinde studierte, zum Beispiel jenen von Israels Ministerpräsident Netanjahu. Er stütze sich auf Berater, höre sich deren Ratschläge genau an, hieß es von Weggefährten.
Die Hizbullah könnte sich ohne Nasrallah an der Spitze weiter radikalisieren, sie könnte sich auch spalten. Schon zuvor hatte es immer wieder Berichte aus Hizbullah-nahen Kreisen oder gut vernetzten Quellen gegeben, dass Kräfte innerhalb der Organisation eine drastische militärische Eskalation verlangten. Aus solchen Gründen hatten viele Beobachter bezweifelt, dass Israel Nasrallah tatsächlich töten würde, sollte es die Gelegenheit geben. Schließlich kannten Militärs und Geheimdienste ihn gut. Doch die Regierung in Jerusalem folgte offenbar anderen Erwägungen. Sie hat die Hizbullah massiv geschwächt – aber auch unberechenbarer gemacht.