Die Guillotine und ihre Folgen für die Moderne | ABC-Z
Berlin. Auch eine Kulturgeschichte: Lázló F. Földényi erzählt, wie das berüchtigte Fallbeil in Paris zur Geburt des modernen Menschen beitrug.
Darüber, dass die Guillotine nach ihm benannt wurde, war der französische Arzt und Nationalversammlungsabgeordnete Joseph-Ignace Guillotin alles andere als glücklich. Zwar war er es, der im Oktober 1789, in den Wirren der Französischen Revolution die Einführung einer Enthauptungsmaschine forderte, um grausamere Hinrichtungspraktiken zu ersetzen – ein weiterer Aspekt war der Revolutionsidealen folgende Wunsch nach Gleichheit in Fragen von Schuld und Strafe, unabhängig vom gesellschaftlichen Rang.
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Doch für Entwürfe und Herstellung des tatsächlichen Apparates und die praktische Einsetzung waren andere verantwortlich, allen voran der Chirurg und Physiologe Antoine Louis, weshalb zeitweilig der Name „Louisette“ dafür im Gespräch war – und übrigens auch die Bezeichnung „Mirabelle“, die nichts mit der köstlichen kleinen gelben Pflaumenart zu tun hat, sondern auf den Schriftsteller und Politiker Mirabeau anspielt. Einen der vielen schillernden Köpfe der französischen Aufklärung, der ein maßgeblicher Akteur der Revolution war und um dessen Tod sich verschiedene Legenden ranken. Jean Paul Marat etwa, der als Revolutionär dazu aufrief, den König hinzurichten, glaubte an Giftmord. Der Guillotine jedenfalls fiel der begnadete Redner und Verfasser brisant erotischer Romane anders als Louis XVI., Marie Antoinette oder Charlotte Corday, die wiederum Marat ermordete, nicht zum Opfer. Mit ihr im Zusammenhang aber stand Mirabeau genauso wie zahllose weitere Protagonisten jener Epoche.
Dem ungarischen Kunsttheoretiker und Essayisten Lázló F. Földényi („Melancholie“, „Der Maler und der Wanderer. Caspar David Friedrichs Urkino“) gilt die Einführung der Guillotine als ein nicht nur buchstäblich, sondern auch im übertragenen Sinne einschneidendes Ereignis, um nicht zu sagen ein Schnitt, der nichts Geringeres als die Entstehung des modernen Menschen zur Folge hatte. Sein jüngstes, von Akos Doma geschmeidig übersetztes Buch heißt entsprechend „Der lange Schatten der Guillotine“ und er zeigt darin im Zuge einer weit verzweigten, mitreißend plastischen Motivsuche, die man als kulturgeschichtliche Archäologie bezeichnen könnte, wie ebenjener Schnitt – als Technik – in verschiedensten Disziplinen zum Movens eines Jahrhunderts wird, vom Fallbeil über die Fotografie und die stadtplanerischen Umwälzungen Haussmanns, dem Paris seine „Zerschneidung“ mittels monumentaler Sichtachsen verdankt, bis hin zur bildenden Kunst und zur Literatur – und hier allen voran zu Baudelaire, dem Dichter der „Fleurs du Mal“, der von den Brüdern Goncourt aufgrund seiner Leidenschaft für alles Morbide, Makabre und namentlich für besagte Hinrichtungsmaschine „le guillotiné“ genannt wurde.
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Der rote Faden heißt hier gewissermaßen Fragmentierung – und die wird quasi selbst zum Prinzip von Földényis Suche, welche sich in diversen spannenden Abschweifungen und Nahaufnahmen ergeht. Das Spektrum reicht vom Komplex „Mensch/Maschine“ über das Pariser Bohème-Leben bis zum 1817 patentierten, bald sprichwörtlich gewordenen Kaleidoskop und frühen Cartoons, von Malern wie David, Ingres oder Géricault über Schriftsteller wie Victor Hugo, der in seinem Roman „Der letzte Tag eines Verurteilten“ von einer Hinrichtung auf der Guillotine erzählt, bis zu Alfred Jarry und seiner „Pataphysik“ sowie den Surrealisten. „Lebensbilder aus dem Paris des neunzehnten Jahrhunderts“ lautet der Untertitel, der vor dem Hintergrund der ubiquitären Todesthematik ironisch, wenn nicht sarkastisch anmutet. Die Fragmentierung nimmt nun Einfluss auf die Kultur und auf den Geist. Földényi spitzt es in der These zu, es sei die „Kopflosigkeit“, die uns zu modernen Menschen macht, das Den-Kopf-Verlieren, eine um sich greifende Zersetzung und Verwirrung. Anekdoten wie die über Goethe, der seine Mutter in einem Brief von 1793 (vergeblich) bat, in Frankfurt eine Miniaturguillotine als Weihnachtsgeschenk für seinen vierjährigen Sohn zu kaufen, machen die Lektüre zusätzlich reizvoll.
Fallbeile gab es freilich schon viel früher, im ausklingenden Mittelalter. Berühmtheit erlangte etwa die „Scottish Maiden“, die „schottische Jungfrau“, die bereits im 16. und 17. Jahrhundert Adlige nicht verschonte. Ein in dem sinnvollerweise illustrierten Buch abgedruckter Holzschnitt aus den „Martyrien der Apostel“ (um 1512) von Lucas Cranach d. Ä. zeigt, wie der heilige Matthias mit einer allerdings noch primitiven Vorrichtung enthauptet wird. Neu war ein Phänomen, das sich als „Industrialisierung des Tötens“ beschreiben lässt. Földényi bezieht sich in diesem Kontext auf Goyas Kupferstich „Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer“ und stellt klar: „Die Vernunft ist es, die die Ungeheuer gebiert. Der Kult der Vernunft in der Aufklärung führte nicht nur zur Guillotine, sondern auch zur Popularität der Monster und der zum Leben erwachenden Maschinen, angefangen mit der Geschichte Frankensteins bis hin zu den Fantasien von Jules Verne und H. G. Wells, von denen ein gerader Weg zur Allmacht der Elektronik, zur Künstlichen Intelligenz und zum Glauben an die Möglichkeit der Transformation des Menschen im einundzwanzigsten Jahrhundert führt“.
Dieser Komplex hätte auch ein Kapitel der „Dialektik der Aufklärung“ von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno sein können, die einen ähnlichen Ausgangspunkt hat und bekanntlich einen Exkurs über die „Juliette“ des Marquis de Sade enthält. Seltsam, dass diese Philosophen und ihr geistesverwandtes Werk bei Földenyi keine Erwähnung finden. Denn über eine Kulturgeschichte des 19. Jahrhunderts hinausgehend ist „Der lange Schatten der Guillotine“ auch eine kritische Abhandlung über den Fortschritt und einen bis heute ungebrochenen Fortschrittsglauben, der mindestens einer Revision bedarf.
Die moderne Welt, zitiert der Autor entsprechend Baudelaire, benötige die Idee des Fortschritts, um die Seele durch die Normierung der unterschiedlichen Bedürfnisse zu uniformieren. Und das ist wirklich kein Zustand.