„Man hört auf zu leben“: Amy leidet noch immer unter Lockdown-Folgen | ABC-Z

FOCUS online: Die Corona-Pandemie hat noch immer Folgen, vor allem für Kinder und Jugendliche. Studien zeigen: Die Rate bei Angst- und Essstörungen sowie Depressionen ist weiter deutlich erhöht. Viele, die das hören, reagieren erstaunt und fragen sich: Wie kann das denn sein? Das ist doch inzwischen schon so lange her.
Amy: Ganz ehrlich, ich hätte das selbst nicht gedacht, war ebenfalls überrascht über diesen Zusammenhang. Manche kommen dann gerne mit den allgemeinen Krisen der Welt: Ukraine, Klimawandel…
Aber die Studien legen nahe, dass tatsächlich Corona eine zentrale Ursache für die Probleme junger Menschen ist.
Amy: Die Pandemie wirkt nach – ich bin selbst ein gutes Beispiel dafür, denn auch bei mir hat es eine Weile gedauert, bis ich das Thema endlich ernst genommen habe. Kein Wunder, wenn auch das Umfeld die Sache eher herunterspielt.
Was meinen Sie?
Amy: Nun, wir werden ja recht schnell und gern als „Generation Corona“ abgestempelt – dass damit auch gewisse Vorurteile einhergehen ist klar.
Wie äußern sich diese Vorurteile?
Amy: Viele sind der Meinung, wir hätten uns zwei Jahre lang nur ausgeruht. Lagen nur faul herum, haben kaum etwas gelernt und waren nur auf uns selbst fixiert. Unsere Sozialkompetenz sei sehr mangelhaft, heißt es oft.
Hängen die aktuellen Probleme junger Menschen mit Sozialkompetenz zusammen?
Amy: Bei mir selbst war das jedenfalls ein wichtiges Thema, das sich ein Stück weit schon vor Corona angebahnt hat. Schon als Kind habe ich mich in großen Menschenmengen unwohl gefühlt. Vor der Klasse zu stehen und zu sprechen, fiel mir schwer…
Aber all diese Dinge fielen mit dem Lockdown ja weg?
Amy: Das stimmt. Ich war auch anfangs der Meinung, dass die Kontaktbeschränkungen und Schulschließungen für mich eher positiv sind. Ich war überzeugt, das würde mir in die Karten spielen. Endlich keine gezwungenen Gruppenarbeiten mehr und damit keine Konfrontation mit meinen Ängsten. Den Schulstoff für mich selbst bearbeiten können, ganz in Ruhe.
Können Sie sich noch erinnern, wie das für Sie war, als die Schulen geschlossen wurden?
Amy: Erst mal hat sich das richtig gut angefühlt. Mich morgens entspannt an meinen Laptop zu setzen und mich von Lernvideos zur Mitose und Meiose oder ähnlichem berieseln zu lassen. Doch schon bald habe ich gesehen, dass genau das Gegenteil passiert. Dass ich so sogar in mehr Stress gerate als vorher.
Warum das?
Amy: Auf der einen Seite: Was da so an Aufgaben über die Schul-Cloud kam, war nichts im Vergleich zum regulären Stoff. Die wahrgenommene Entspannung entwickelte sich im nächsten Moment zu Druck: Wie sollte ich so das Pensum der zehnten Klasse schaffen? Und wie dann das Abi? Auf der anderen Seite fiel der Ausgleich zum Lernen weg. Die viele Freizeit, die man in dem Moment hatte, konnte man nur schwer produktiv und abwechslungsreich gestalten. Schließlich mussten wir ja zu Hause bleiben.
Was hatten Sie bis dahin in der Freizeit gemacht?
Amy: Ich war schon immer ein sehr kreativer Mensch. Ich male und schreibe gerne. Aber jetzt fehlte mir dafür die Inspiration. Sonst verarbeitete ich, was ich sehe, erlebe. Da man im Lockdown Tag für Tag das gleiche erlebte, fehlte einfach der Input.
Und dann haben Sie kaum noch geschrieben oder gemalt?
Amy: Genau. Mein Ausgleich war weg.
Was haben Sie stattdessen gemacht?
Amy: Das, was viele gemacht haben: Mir die Zeit mit dem Handy vertrieben. Durch soziale Netzwerke scrollen. Sich auf die Couch legen und von Streaming-Diensten berieseln lassen. Ich glaube, den meisten Menschen geht es nicht wirklich gut, wenn sie das ein paar Stunden machen. Aber bei mir kam noch etwas anderes hinzu.
Nämlich?
Amy: Angsttherapie ist Konfrontationstherapie – das ist so wahr! So richtig habe ich das aber erst verstanden, als es schon zu spät war. Man muss sich seinen Ängsten stellen, in die angstauslösenden Situationen reingehen, damit es einem besser gehen kann. Aber genau das war im Lockdown nicht möglich.
Und was passierte dann?
Amy: Wenn man der Angst aus dem Weg geht, sich verkriecht, wird sie schlimmer. Ich vergleiche das Ganze gern mit einer Abwärtsspirale, die sich während der Pandemie langsam entwickelte. Einsamkeit, Eintönigkeit, fehlende Ventile und der Mangel an Perspektiven – alles sehr gute Voraussetzungen für die Spirale. Ich dachte, es würde besser werden, wenn die ganzen Einschränkungen wegfielen. Aber dann kam der Totalausfall.
Wie kann man sich den vorstellen?
Amy: Als die Schule wieder los ging, war ich total überfordert. Da waren zu viele Reize auf einmal – alles war so laut, so schnell. Der absolute Gegensatz zu den letzten Monaten. Für die meisten ging es weiter, als sei nichts gewesen. Aber ich fügte mich nur schwer wieder in den Schulalltag ein. Jeden Tag kam ich total erschöpft nach Hause.
Also ab auf die Couch?
Amy: Und irgendwas anschauen? Nein, das ging nicht. Ich bin direkt ins Bett, wollte nur meine Ruhe. Hauptsache keine weiteren Reize.
Ging es nach ein paar Wochen besser?
Amy: Irgendwie nicht. Ich habe mich durch jeden Tag geschleppt bis zu den Sommerferien. Es gab nur noch die Schule und danach mein Bett. Man hört auf zu leben – man existiert nur noch.
Wie haben Sie die Sommerferien verbracht?
Amy: Ganz ehrlich: Im Detail weiß ich das nicht mehr. Depressionsdemenz, sage ich immer – denn anscheinend gibt es das öfter, dass Menschen mit depressiven Episoden solche Blackouts haben. Ich denke, den größten Teil lag ich weiterhin nur im Bett.
Inzwischen wissen Sie, dass Sie damals eine Depression hatten. Wie kam es zur Diagnose?
Amy: Die kam erst einige Zeit später. Ich glaube es war im Herbst 2021, ich bin gerade in die elfte Klasse gekommen. Es hatte sich viel geändert, neue Klassenkonstellation, neue Leute, neue Aufgaben und Anforderungen. Ich sollte dann einen Vortrag vor der Klasse halten und bin einfach umgekippt. Mein Lehrer rief den Krankenwagen. Körperlich sei alles in Ordnung, sagte man mir im Krankenhaus. Ich bin meinem Lehrer noch immer dankbar, dass er es nicht damit auf sich beruhen ließ. Gleich am nächsten Tag hat er mich ins Gespräch genommen. Wir wussten beide, irgendwas stimmt mit mir gerade nicht.
Was meinte er?
Amy: Er fragte: „Hast du schon mal daran gedacht, dass etwas anderes sein könnte?“ Damit spielte er natürlich auf das Unsichtbare an – meine Psyche. Noch einmal: Hut ab vor diesem Lehrer! Sein Verhalten steht im totalen Gegensatz zu all denen, die die Folgen der Pandemie für junge Leute verharmlosen oder psychische Erkrankungen nicht ernst nehmen.
Wie haben Sie auf die Frage des Lehrers reagiert?
Amy: Die Worte haben mich nicht mehr losgelassen. Sobald ich zu Hause war, habe ich direkt recherchiert. Auf der Seite der Stiftung Deutsche Depressionshilfe fand ich diesen Selbsttest. Das Ergebnis: Ich sollte schnellstmöglich einen Hausarzt aufsuchen. Das habe ich getan – und dort bekam ich später die Diagnose.
Ging es von da an bergauf?
Amy: Erst mal nicht wirklich, aber das hatte mehrere Gründe. Da war einmal die Macht der Verdrängung: Wie so viele hatte ich einfach genug von Corona, wollte nach vorne schauen, zuversichtlich sein. Ich brauche keine Therapie, ich schaffe das allein, dachte ich. Ein großer Fehler, wie ich heute weiß. Hätte ich mir schneller Hilfe geholt, hätte ich bestimmt nicht so viel wertvolle Lebenszeit verloren. Allerdings: Wenn man sich dazu überwinden kann, muss man leider feststellen, dass die Wartezeit auf einen Therapieplatz lang ist. Das schreckt nochmal sehr ab.
Sie haben gerade gesagt, dass Sie wertvolle Lebenszeit verloren haben. Von welcher Zeitspanne sprechen Sie?
Amy: Nach der Diagnose ging es mir noch mal rund eineinhalb Jahre schlecht. Ich habe nur funktioniert, mich irgendwie durch die Tage geschleppt.
Haben Ihre schulischen Leistungen gelitten?
Amy: Ich musste mich im Vergleich zu vorher definitiv mehr bemühen, um mein Niveau einigermaßen halten zu können. Mein Kopf war so voll mit anderen Dingen. Es gab oft große Ausrutscher , aber irgendwie habe ich die Schule am Ende doch gut geschafft. Auch hier gilt ein großer Dank meinen Lehrkräften, die mich immer unterstützt und Rücksicht genommen haben.
Was gab den Anstoß, sich letztlich doch professionelle Hilfe zu suchen?
Amy: Das kam über einen kleinen Umweg. Irgendwann im vorletzten Jahr habe ich mich an diesen Selbsttest erinnert und an die Seite, auf der er angeboten worden war. Ich habe mich da noch mal draufgeklickt und gesehen, dass es bei der Deutschen Stiftung Depressionshilfe einen Jugendbeirat gibt. Das fand ich spannend, aber ich war auch unsicher: Kann ich das? Mich zusammen mit anderen engagieren?
Und?
Amy: Die meisten Jugendlichen und jungen Erwachsenen, die ehrenamtlich für die Stiftung tätig sind, kommen aus Leipzig. Ich wohne ein Stück weg. So kam es, dass ich mich zu den Treffen online dazu geschaltet habe. Zu sehen, dass ich mit meinem Problem nicht allein bin, dass es sehr viele gibt, denen es ganz ähnlich geht, hat mir schonmal geholfen. Und gleichzeitig hat sich mein schlechtes Gewissen gemeldet.
Warum das?
Amy: Als Beirat, der beratend tätig ist, hat man ja auch eine gewisse Vorbildfunktion. Aber wie wollte ich Vorbild sein, wenn ich es selbst nicht schaffte, mir helfen zu lassen?
Damit haben Sie sich vermutlich einen Ruck in Sachen Therapie gegeben. Das Problem mit den langen Wartelisten für einen Therapieplatz war damit allerdings nicht aus der Welt.
Amy: Das stimmt. Allerdings hatte ich mich damals auf einige Listen setzen lassen und auch einige Erstgespräche gehabt. Ich hatte also schon einen Fuß in der Tür. Meine Probleme sind dann mit der Therapie zwar nicht komplett weggegangen – noch heute gibt es Momente, die mich zurückwerfen. Aber ich kenne jetzt Methoden, die mir helfen, nicht mehr so tief zu fallen. Tipps und Tricks, die man gemeinsam erarbeitet, Dinge, die für mich persönlich gut funktionieren.
Für Sie persönlich – das betonen Sie?
Amy: Ja, weil es oft etwas sehr Individuelles ist. Daher kann ich Betroffenen auch nur raten, sich echte Unterstützung zu holen. Allgemeinplätze wie „das wird schon“ helfen bei einer Depression nicht weiter. Schon gar nicht, wenn einem wichtige Jahre der Entwicklung genommen worden sind. Als der zweite Lockdown kam, war ich 16, das ist eine prägende Zeit.
Das Party-Alter?
Amy: Partys waren noch nie mein Ding. Aber ich hätte gern etwas erlebt, etwas von der Welt gesehen … eben das, was alle jungen Menschen in dieser Phase tun sollten. Um ihren Platz in der Welt zu finden.
Haben Sie den inzwischen?
Amy: Nachdem ich mir Hilfe gesucht habe, hat sich einiges geändert. Ich habe mein Abitur gemacht und dann ein Freiwilliges Soziales Jahr (FSJ) in einem Basketballverein. Dort war und bin ich Trainerin und Übungsleiterin in den verschiedensten Altersklassen.
Das klingt nach vergleichsweise viel Sozialkontakt…?
Amy: Das stimmt. Es hat mich auch ganz schön Überwindung gekostet, mich auf die Stelle zu bewerben. Aber da sind wir wieder beim Stichwort Konfrontationstherapie. Irgendetwas in mir wusste, dass ich das jetzt einfach machen muss. Da ich selbst früher Basketball gespielt habe, hat das gut gepasst.
Was machen Sie jetzt?
Amy: Basketballtrainerin bin ich nach wie vor. Seit Anfang Oktober studiere ich soziale Arbeit. Von der Sozialphobie in den sozialen Beruf – wer hätte das ahnen können? Eins ist klar: Allein hätte ich das niemals schaffen können…
Jetzt denken Sie wieder an den Lehrer, oder?
Amy: Ja. Er stand mir in einem entscheiden Moment zur Seite, während viele andere offensichtlich ahnungslos – oder auch ignorant? – sind, wenn es ums Thema seelische Folgen der Pandemie geht. Damit sich zumindest an den Schulen etwas ändert, haben wir vom Jugendbeirat der Stiftung eine Forderung: Die Aufklärung über Depression muss fest im Lehrplan der weiterführenden Schulen verankert werden.