Die Dokuserie „In Vogue: The 90s“ bei Disney+ | ABC-Z
Die Neunzigerjahre in der Mode begannen mit einem Schnitt. Als Anna Wintour 1988 Chefredakteurin der amerikanischen „Vogue“ wurde, änderte sie gleich mal den Stil. Ihre Vorgängerin hatte für die Cover immer den gleichen Bildausschnitt gewählt (das Gesicht titelfüllend), das gleiche Styling (dicke Klunker, viel Schminke), die gleiche Bearbeitung (extrem retuschiert) und die gleichen Models (blond). Wintour wollte es natürlicher und setzte auf ihren ersten Titel ein Model in Jeans. Aus der Druckerei kam der Anruf, ob das wirklich das richtige Bild sei.
Wenigstens reden sie mal, zum Beispiel über Madonna
Wer solche Anekdoten aus der Innenwelt des schönen Scheins liebt, der sollte sich die Dokuserie „In Vogue: The 90s“ ansehen, deren erste drei Folgen bei Disney+ laufen. Denn endlich einmal äußert sich die sonst nicht besonders selbstreflexive Branche: Anna Wintour, ihre Mitarbeiterinnen Tonne Goodman und Grace Coddington, Models wie Claudia Schiffer und Kate Moss sowie Stars wie Kim Kardashian und Victoria Beckham. Alle sind um Selbstdarstellung bemüht und sitzen vor öde aufgestapelten Coffee-Table-Books und in penibel aufgeräumten Büros. Aber wenigstens reden sie mal.
Zum Beispiel über Madonna. Kim Kardashian führte als Achtjährige die Hunde der Nachbarin namens Madonna aus und hatte ihr Vorbild gefunden. Eines Tages gab Madonna ihr und ihrer Schwester Kourtney eine Kiste mit den Armbändern, die sie nicht mehr brauchte. In der Schule fragten ihre Freundinnen: „Woher habt ihr die?“ – „Von Madonna.“ – „Ja, klar.“ Sogar die „Vogue“ merkte, dass sich in der Popkultur etwas tat. Auf einem Flug saß Anna Wintour neben einem Geschäftsmann, der zu ihr sagte: „Die ,Vogue‘, das ist für mich Audrey Hepburn oder Grace Kelly – aber niemals Madonna.“ Da ging der neuen Chefredakteurin ein Licht auf: „Natürlich muss ,Vogue‘ auch Madonna bedeuten.“ Mode, Film und Musik verschmolzen. Die passende Melodie dazu: das Lied „Vogue“, von Madonna. Aufs Cover setzte Wintour im Mai 1989 Madonna, die aus einem Pool auftaucht. Im Heft: Madonna im Abendkleid, Popcorn essend. So etwas hatte die „Vogue“-Leserin noch nicht gesehen.
Im Januar 1990 brachte Wintour die von Peter Lindbergh fotografierten fünf Models auf den Titel, die mit diesem Bild zu Supermodels wurden. Nun mussten sie sich nur noch durch ihre Vornamen ausweisen: Cindy, Christy, Linda, Naomi und Tatjana faszinierten George Michael so sehr, dass er sie im legendären „Freedom“-Video auftreten ließ. Nur eine war nicht dabei, und nun kommt heraus, dass sie sich grämte: Claudia Schiffer, heute 54 Jahre alt, sagt, sie sei damals so eng mit Chanel verbandelt gewesen, dass man sie warnte, sie könne diese Stellung gefährden, wenn sie da mitmache. Als sie das Video sah, dachte sie: „Ich hätte das machen sollen.“ Leider sagt sie nicht, wer sie vor Karl Lagerfelds Eifersucht warnte.
Wer für weniger als 10.000 Dollar pro Tag erst gar nicht aufsteht
Die Supermodel-Ära begann. Naomi war überrascht, als sie in Mailand in der Zeitung las, was sie am vorigen Morgen gefrühstückt hatte. Victoria Beckham eiferte optisch Linda Evangelista nach. Und ein „Vogue“-Autor kämpfte bei Anna Wintour erfolgreich darum, dass diese Linda-Aussage der letzte Satz in seinem Porträt blieb: „We don’t wake up for less than 10.000 Dollars a day.“ Dass man für weniger als 10.000 Dollar erst gar nicht aufsteht – diese unbedachte Arroganz hängt Linda Evangelista bis heute nach.
Der Preis für solche schönen Einblicke ist die Selbstbeweihräucherung. In den Szenen glaubt man zu erkennen, wie der um Inhalte bemühte Streaminganbieter mit dem marketinggestählten Magazinverlag Condé-Nast ringt. Dabei kommen viele beschönigende Nullsätze heraus: „Man vergisst nie seine ,Vogue‘-Cover“, säuselt Claudia Schiffer. „Die Neunziger änderten einfach alles“, übertreibt „Vogue“-Redakteur Hamish Bowles. Und Nicole Kidman weiß noch genau, dass sie „Wow“ rief, als sie auf den Titel kam. Alles ist hier „rebellious“, „amazing“, „magical“, „incredible“. Selbstironisch wird nur Anna Wintour selbst, die über ihren Vater sagt: „Auch er hatte den Ruf, ziemlich tough zu sein.“
Immerhin wird in den sechs Folgen der Serie sichtbar, dass das Wettrennen zwischen den Zeitschriften mindestens so brutal war wie heute die peinliche Konkurrenz um Klickzahlen. Denn kaum hatte das Supermodel-Zeitalter begonnen, nahte schon sein Ende. Kate Moss läutete es im Juli 1990 mit 16 Jahren auf dem Titel der britischen Independent-Zeitschrift „The Face“ ein, fotografiert von Corinne Day: natürlich, lachend, ungeschminkt, mit lustiger Federkrone. Plötzlich war die Anti-Mode in Mode, und die „Vogue“ sah doch wieder bourgeois aus.
Kate Moss war kein Supermodell, das war ihr Charme
Kate Moss war nie ein Supermodel, das war ihr Charme. In New York brauchte just in der Zeit die Marke Calvin Klein einen Neustart. Art Director Fabien Baron schuf das CK-Logo und suchte ein neues Kampagnengesicht. Zur 18 Jahre alten Kate Moss sagte Calvin Klein: „Perfekt!“ Das Mädchen, das bis dahin kaum die U-Bahn von Croydon in die Innenstadt von London bezahlen konnte, kam in der Concorde mit einem Millionenvertrag aus New York zurück. An ihrer Seite in der Kampagne: Hip-Hop-Star Mark Wahlberg. Da war er, der Mix aus Musik und Mode.
Die Supermodels bekamen regelrecht Panik, weil sie von Calvin Klein nicht mehr gebucht wurden. Jetzt ließen sich auch Linda und Christy die Haare kurz schneiden und von Corinne Day fotografieren. Und Anna Wintour rief ihre eigene Jugendrevolution aus. Sie brachte zwölf Seiten über eine Kollektion des jungen Londoner Designers John Galliano – die man nirgends kaufen konnte, weil er noch gar nichts produzierte. Über die Experimentierfreude der britischen Designer sagt Wintour: „Sie brauchen nicht auf ihre Investoren Rücksicht nehmen, weil sie keine haben.“ Galliano fand dank der Bilder dann doch einen Unterstützer, sodass er eine Modenschau auf die Beine stellen konnte. Das ebnete ihm den Laufsteg zu Givenchy und Dior. Damals bewirkten Zeitschriften noch was.
Eine prototypische Karriere führte Edward Enninful vom Trendheft „i-D“ an die Spitze der britischen „Vogue“. Erkennungszeichen der „i-D“: Jedes Covermodel schließt ein Auge. Nützliches Partywissen: Kate Moss kann nicht einfach nur ein Auge schließen, daher drückte sie es auf dem „i-D“-Titel mit den Fingern zu.
Eine weitere Jugendbewegung machte den Glamour-Aposteln das Leben schwer: der düstere Grunge. Marc Jacobs stellte bei der spießigen Marke Perry Ellis seine Grunge-Kollektion vor – einen dekonstruierten Mehrlagenlook, von heute aus gesehen unglaublich weitsichtig. Anna Wintour fand die Kollektion scheußlich, aber das alles war eben Trend. Also brachte sie eine Strecke unter dem Titel „Grunge & Glory“. Was wiederum zu einer weiteren Wendung führte: Edward Enninful dachte sich, wenn die „Vogue“ jetzt schon Grunge bringt, dann kann „i-D“ auch Supermodels. Also drückten Naomi, Christy und Linda auf seinem Titel ein Auge zu. Und Kate Moss wiederum kam in die „Vogue“.
In der Mode geht es hin und her. Der Fortschritt ist keine Schnecke. Die Wellenbewegungen führten schnell zum Heroin-Chic, mit dem viele Designer flirteten, bis Präsident Bill Clinton schließlich 1997 befand: „You don’t need to glamourize heroine.“ Und schon waren alle wieder weiter. Stella McCartney machte in Paris Karriere, wie ihre Landsmänner John Galliano und Alexander McQueen. Als Fünfundzwanzigjährige wurde sie 1997 Chefdesignerin bei Chloe. Wie hätte sie erfolglos bleiben können, wenn über den Laufsteg ihre Freundin Naomi ging und in der ersten Reihe ihr Vater Paul saß? Man möchte ihr zurufen: „Check your privilege!“
Und dann kam Hollywood
Fehlte nur noch Hollywood. Bis dahin war die Verbindung der europäischen Modehäuser zu den amerikanischen Stars nicht mehr so eng wie zu den Zeiten von Grace Kelly und Hermès sowie Audrey Hepburn und Givenchy. Aber als Elizabeth Hurley mit dem gewagten Sicherheitsnadeln-Kleid 1994 Versace nach oben brachte und Tom Ford seit 1995 Gucci mit tiefen Ausschnitten und knappen Röcken sexy machte, waren Super- und Nicht-so-super-Models plötzlich out. Auf die Cover kamen nun Stars wie Gwyneth Paltrow, Nicole Kidman, Wynona Ryder.
Zwei Frauen retten das ganze Hin und Her dann doch noch durch Einsichten, die über den Tag hinaus weisen. Zu den Stars auf Titeln meint die unbeugsame „Vogue“-Stylistin Grace Coddington: „Das war der Anfang vom Ende.“ Und Miuccia Prada spricht von „Glamour“, als wäre es ekelerregend, das Wort überhaupt in den Mund zu nehmen. Wohltuend, dass manche Modefrauen so uncool sind. Da merkt man erst, wie cool es sein kann, eigenständig zu denken.
Die ersten drei Folgen der Dokuserie In Vogue: The 90s laufen seit Freitag, weitere drei Folgen am 20. September auf Disney+.