Die Band Bilderbuch in der Musik-Arena | ABC-Z
Die Veranstalter vom Tollwood haben traditionell statt Behelfsbrettern, Kiesflächen oder Bodenplatten für die Außenbereiche zur Musik-Arena, über die sich das Publikum vor den sich selbst bei leichtem Regenfall unwillkürlich bildenden Spontanpfützen ins Zelt retten könnte, lieber rutschige Matsch-Erde besorgt, die noch dazu ziemlich unangenehm riecht.
Glücklicherweise treffe ich Christl Sittenauer, Lach & Schieß-Ensemblemitglied und sensationelle Konzertbegleiterin. Trotz Hürdenlauf und Schlammrutschen sind wir vorfreudig. Zurecht.
Die Softpower von Bilderbuch
Um unseren Durst zu stillen, reihen wir uns in der langen Schlange des Getränkestandes an, zäh geht es nach vorn, während drin bereits die Wiener Supportsängerin Kässy ihren gut halbstündigen Zeitgeist-Elektro-Sound abliefert. Als wir nach reichlich Wartezeit vorne sind, entscheiden wir uns aus praktischen Gründen nicht für eine Halbe, sondern gleich für eine Mass, die allerdings nicht im Masskrug kommt, sondern in an Küchen-Messbecher erinnernde Plastik-Kannen, deren scharfkantige Griffe deutliche Abdrücke an den Handflächen hinterlassen. Aber das Bier schmeckt.
Und schon beginnt der Hauptact “Bilderbuch”, die LED-Kulisse zeigt sonnige Berge. Die ersten Klänge des Tourtitels “Softpower” ertönen parallel zu Nebelschwaden. Pünktlich zum ersten Beckenschlag verwandelt sich der alpine Hintergrund in Flammenwerfer, aber ohne aktive Pyrotechnik, sondern rein auf der Leinwand, die einen wichtigen Bestandteil der künstlerischen Form dieser Gruppe bildet, denn sie verstehen es wie kaum jemand, Musik und Bild derart gekonnt und beeindruckend zu verbinden.
Die einzelnen Musiker werden beispielsweise manchmal von unten in Fischaugenoptik und kräftigem Schwarzweiß projiziert. Überhaupt ist Bilderbuchs hochkarätiger Geschmack bezüglich Musikvideos bahnbrechend, glänzende Einfälle, brillante Kamera und höchst originelle Regieeinfälle. Allein das Video zu ihrem gefeierten Hit “Maschin” wurde in die Top Ten beim “Miami International Film Festival” gewählt und als bestes österreichisches Musikvideo beim Vienna Independent Shorts Festival ausgezeichnet.
Angefangen haben sie als Klosterschüler in Oberösterreich – mit der Vertonung von Struwwelpeter-Reimen. Folgerichtig nannten sie sich “Bilderbuch”. Das war 2005. Die Eltern des Sängers Maurice Ernst führten mehrere Szenelokale. So war er schon als Kind mit fetten Beats und Feieratmosphäre vertraut.
Rasch stieg ihre Berühmtheit, einerseits, weil sie ein beachtliches musikalisches Gespür haben und wissen, wie man Publikum mit äußerst tanzbaren Liedern quasi in Trance versetzt. Andererseits weil sie durchaus tiefenentspannte und noch dazu recht fesche Burschen sind, also in jeder Hinsicht ein gelungenes Konzept vorweisen. 2009 brachten sie ihren ersten professionellen Tonträger “Nelken & Schillinge” heraus, stiegen sofort in die Charts ein und erhielten Lobeshymnen. So schrieb der “Musikexpress”, ihr Debütalbum sei eine “Mischung zwischen Rocktheater, Drogenrock und Dadaismus”.
Ein paar Jahre später entwickelte sich ihr Stil von ursprünglich eingängiger Popmusik in Richtung HipHop, was unter anderem an dem R&B-Schlagzeuger Philipp Scheibl lag, der neu in die Band eingestiegen war und dem Sound nochmal so einen richtig fetten Schub nach vorne gab.
Anmutig androgyn
Bilderbuch haben nach wie vor einen gleichbleibend guten Output und verstehen es, die Stimmung im Zelt zum Brodeln zu bringen. Auch mit optischen Feinheiten wie der sexy Damen-Nachtwäsche des Gitarristen zu oberlässigen Riffs bei am Steg gehaltenem, freischwebendem Instrument oder der Entledigung des anmutig-androgynen Sängers beinahe sämtlicher Kleidungsstücke.
Während ruhiger Nummern lohnt ein Gang zum Merch-Stand: Hier finden sich hübsche und preislich erschwingliche T-Shirts mit Bandmitgliedern als Sisi und Franz gekleidet, aber auch kleine bedruckte Frisbee-Scheiben.
Zwischendurch unterhält Maurice gekonnt mit flotten Zwischenansagen, an denen Falco seine Freude gehabt hätte: “München, lasst die Leinen los! Wo sind meine wilden Tiere? Oh Bayern, Land der Würste, Land der Autos, Land der schönen Männer! Wo sind meine Gigolos?”
Aus seiner berechtigten Freude, dass Österreich augenblicklich 3:1 gegen Polen gewonnen hat, macht der Frontmann keinen Hehl und ruft freudestrahlend: “Wir sehen uns im Finale!”
Wie aus David-Lynch-Filmen
Dramaturgisch klug gebaut auch die Songfolge, die ohnehin grandiose Stimmung wird von Minute zu Minute famoser. Bei “Maschin” singen überwiegend die Fans, text- und timing-sicher: “Steig jetzt in mein Auto ein”, das Jubeln mündet in Toben. Bald gleiten wir durch eine Piste unterhalb der Baumgrenze mit herumwirbelnden Tannen, bald rollen wir über eine an die flammenden Straßen aus David-Lynch-Filmen erinnernde blinkende und leuchtende Startbahn, dazu jene kraftvollen Klänge und Gesänge.
Das gesamte Konzert ist eine gelungene Ski-Abfahrt samt Telemark-Eleganz und lässt beim Verlassen des Geländes die Herzen weiter schlagen und die Regenpfützen in lebhaften Farben schillern.