Die Arte-Dokumentation „Tina“ handelt vom Leben des Rockstars Tina Turner | ABC-Z

Was für ein Satz über die eigene Mutter: „I did, as if she loved me“. Ich tat, als würde sie mich lieben: So sagte es Tina Turner 2019 in dem beeindruckenden, in ihrer späten Heimat Zürich geführten Interview, das der Dokumentation über die „Queen of Rock ’n’ Roll“ der oscarprämierten Filmemacher Dan Lindsay und TJ Martin zugrunde liegt.
Mutter und Vater machten sich aus dem Staub
Dieses Interview, wohl das letzte große mit der 2023 gestorbenen Sängerin, ist das dramaturgische Rückgrat des mit Ausschnitten und Archivmaterial prall gefüllten Films von 2021, sein Skelett: Alles ist daran aufgehängt. Tina Turner, stilvoll in Schwarz gekleidet, wirkt alterslos in diesem Gespräch, reflektiert, souverän, dann auch wieder sehr jung, wenn sie etwa über den Kölner Erwin Bach spricht, die späte Liebe ihres Lebens. Dass sie im November 2019 achtzig Jahre alt wurde, ist ihr keine Sekunde lang anzumerken.
Dann fällt irgendwann der Satz über die Mutter. Die nämlich hatte sie schon als Kind zurückgelassen, und kurz darauf machte sich auch der Vater aus dem Staub: Anna Mae Bullock und ihre Schwester mussten früh selbständig werden, bis sie einige Jahre später doch zur Mutter nach St. Louis zogen. Die Mutter habe Anna einfach „nie gemocht“, erfahren wir, selbst dann nicht, als die talentierte Tochter zu einem der größten Megastars des zwanzigsten Jahrhunderts aufgestiegen war – der Kunstperson Tina – und der Mutter ein Haus und alle Annehmlichkeiten kaufte.
Die Szene ist wichtig, denn sie verdeutlicht, dass Tina Turners Erfahrungen mit unerwiderter Liebe viel tiefer reichten als nur zurück zu der fatalen Beziehung mit ihrem frühen Mentor, Ehemann und Peiniger Ike Turner. Und sie zeigt zugleich, mit welcher Willenskraft diese Frau der Ablehnung entgegentrat: Sie liebte die entgegen allem Erfolg nicht an sie glaubende Mutter trotzdem und tat, als würde diese sie lieben.
Vor der Öffentlichkeit verheimlichte Tina die Gewalt
Dass sie noch als Teenagerin an einen selbstsüchtigen Mann geriet, an den bereits einigermaßen bekannten Musiker Ike Turner, der 1951 mit „Rocket 88“ eine der ersten Rock-’n’-Roll-Platten der Geschichte eingespielt hatte, klingt wie eine besonders perfide Wendung des Schicksals. Ike Turner bestaunte den voluminösen Gesang dieser wilden Anna, förderte sie, machte sie bald zur Sängerin seiner Band, aber, so erzählt es der Film (einmal mehr), nutzte sie letztlich nur aus. Diese Anna, die er wie im symbolischen Akt einer Inbesitznahme in Tina umbenannte, sollte singen, aber der alles kontrollierende Kopf der Band – und Rechteinhaber – wäre weiterhin Ike Turner. Ein ehemaliges Bandmitglied, Jimmy Thomas, deutet im Film an, dass auch die 1962 geschlossene Ehe von Ike und Anna von Anfang an dem Ziel gedient habe, sich die „Goldmine“ Anna/Tina zu eigen zu machen.
Sechzehn Jahre lang traten Ike und Tina gemeinsam auf, spielten oft mehrere Shows pro Abend, wurden mit einigen Titeln bekannt (in Europa vor allem mit dem von Phil Spector produzierten, überwältigenden Song „River Deep – Mountain High“), während das Privatleben zunehmend von Ikes Prügelattacken bestimmt wurde: eine leider allzu häufige, elende Geschichte von psychischer und physischer Gewalt, von sexuellem Missbrauch (in der Ehe) und von seelischer Abhängigkeit.
Es ist viel über diese brutale Beziehung gesagt, geschrieben und verfilmt worden. Vor der Öffentlichkeit verheimlichte Tina die Gewalt. Einen ihrer Selbstmordversuche erklärte Ike Turner – der hinter Gitter gehört hätte – in einem Interview damit, dass sie daran verzweifelt sei, ihm gefallen zu wollen; aber er habe eben viele andere Frauen. Auch viele spätere Liedtexte von Tina Turner können als ganz direkte Bezugnahmen gelesen werden, etwa: „You don’t treat me tender / No matter what I do / But I’m the great pretender“ aus „Ask Me How I Feel“.
Im Jahr 1976 löste sich Tina Turner endlich von Ike. Sie erzählt es hier noch einmal, auch, wie sie sich im folgenden Rechtsstreit einzig den Namen „Tina“ sicherte, um sich sozusagen ihre Identität wieder anzueignen. Es belastete sie, dass sie trotz zunächst schwieriger, dann immer erfolgreicherer Solokarriere immer weiter auf die Jahre mit Ike Turner angesprochen wurde. Man machte sie zur Ikone einer Überlebenden männlicher Gewalt. Im Jahr 1993 kam Brian Gibsons Filmbiographie in die Kinos, die ganz auf diese Befreiung einer genialen Sängerin aus einer gewalttätigen Beziehung abhebt.
Tina Turner sah sich den Film gar nicht erst an und sagte auf der Pressekonferenz beim Filmfestival Venedig, dass sie sich damit nicht mehr befassen wolle. Sie habe die Geschichte ja aufgeschrieben (in ihrer Autobiographie „Ich, Tina“), um nicht mehr darüber reden zu müssen. Im Interview von 2019 spricht Tina Turner von einem „Fluch“. Tatsächlich funktioniert auch das von ihr autorisierte „Tina“-Musical – die ultimative Kitsch-Musealisierung von Künstlern – aus dem Jahr 2018 nach demselben Emanzipationsschema. All das stellt die HBO-Dokumentation heraus.
Sie nannte es „Folter“
Doch zugleich folgt die gesamte Dramaturgie wiederum diesem Erzählbogen – ganz unberührt davon, dass die Protagonistin im Film schließlich sagt, irgendwann überwiege das Vergeben. Vielleicht ein weiterer Versuch, endlich dem dominanten Narrativ zu entkommen. Der Film beginnt gleich mit dem berühmten Interview im „People Magazine“ vom Dezember 1981, in dem Tina Turner erstmals über die Gewaltbeziehung sprach („Folter“ nannte sie es) – damals schon in der irrigen Hoffnung, das Thema abhaken zu können. Dann widmen Lindsay und Martin den Ike-Jahren breiten Raum, kommen auch in den späteren Partien immer wieder darauf zurück, obsessiv beinahe.
Natürlich wird der Solodurchbruch mit dem Album „Private Dancer“ (1984) thematisiert. Die befreiende Zusammenarbeit mit dem Manager Roger Davies und dem Songwriter Terry Britten, obwohl ein Stück wie „What’s Love Got to Do with It“ zunächst gar nicht nach Tina Turner klang. Man sieht die äußere Verwandlung durch Achtziger-Jahre-Löwenmähne. Der ziemlich alberne Auftritt im dritten „Mad Max“-Film wird noch angerissen (im Anschluss bei Arte zu sehen), bevor die von Tinas zweitem Ehemann Erwin Bach mitproduzierte Dokumentation, die als intimer Lebenseinblick und Resilienz-Parabel beworben wird, wieder ganz auf die Langzeitfolgen des Ike-und-Tina-Dramas umschaltet. Immerhin gibt es eine schöne Coda über das schließlich mit Erwin Bach gefundene private Glück.
Dabei könnte man die Geschichte ganz anders erzählen, viel stärker auf die Wahnsinnspower dieser Bühnenkönigin ausgerichtet, die erst mit Mitte vierzig zur Soul-, Pop- und Rock-Diva wurde. Und vor allem auf die Musik. Als ultimative Dokumentation hätte man auf ikonische Alben wie „Break Every Rule“ (1986), „Foreign Affair“ (1989) – darauf das Bonnie-Tyler-Cover „The Best“ – oder das „Golden Eye“-Album „Wildest Dreams“ (1996) eingehen müssen. Auch die gewaltigen Stadiontouren, bis dahin Männern vorbehalten, hätten einen Blick verdient.
Dass Tina Turners Warnung vor der Homöopathie nicht vorkommt, kann man dem Film indes nicht vorhalten. Zwar war bekannt, dass sie 2017 eine Nierenspende von ihrem Lebensgefährten erhalten hat, was sie von einem Leben an der Dialyse befreite. Aber dass ihre Nieren Opfer ihres Vertrauens auf ein homöopathisches Medikament waren – Tina Turner hatte verschriebene Bluthochdrucksenker dafür abgesetzt –, erfuhr man erst 2023, als die Sängerin öffentlich bekannte: „Hätte ich gewusst, was für ein Wagnis ich eingehen würde, hätte ich mich nie auf die Alternativmedizin eingelassen.“ Diese Naivität einzugestehen, erfordert Mut, aber an dem mangelte es Tina Turner nie. Das wird auch in dieser trotz aller Eindimensionalität sehenswerten Dokumentation deutlich.
Tina läuft am Sonntag um 20.15 Uhr auf Arte (im Rahmen eines Themenabends).