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Deutschlands Verhältnis zu Geopolitik und Geoökonomie | ABC-Z

Über mehr als ein halbes Jahrhundert hatte die Geopolitik in Deutschland keinen guten Ruf. Mehr noch, man interessierte sich nicht für sie. Das hatte nicht zuletzt mit der verhängnisvollen Rolle zu tun, die sie in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts für die deutsche Politik gespielt hatte.

Erst hatte der Schwede Rudolf Kjellén, auf den der Begriff Geopolitik zurückgeht, die Lage des Deutschen Reichs als „Einkreisung“ zwischen den Seemächten des Westens und der großen Landmacht Russland im Osten beschrieben und den Deutschen den Weg nach Südosten gewiesen: Um Weltmacht zu sein, sollten sie eine Verbindung Berlin-Bagdad, eine Achse Nordsee-Persischer Golf aufbauen, was dann, neben anderem, in den Ersten Weltkrieg geführt hat. Und danach hat der Geopolitiker Karl Haushofer eine politische Verbindung zwischen Deutschland und der Sowjetunion propagiert, was seinen Niederschlag im Hitler-Stalin-Pakt fand, dem Beginn des Zweiten Weltkriegs.

Nach 1945 haben die Deutschen das Interesse an der Geopolitik verloren; in praktischer Hinsicht, weil das Land geteilt war und ohnehin keine Weltpolitik betreiben konnte, und in theoretischer Hinsicht, weil die geopolitischen Entscheidungen in Washington und Moskau getroffen wurden und man in Bonn und Ostberlin ohnehin nur nachzuvollziehen hatte, was dort entschieden wurde.

Deutschland wird zum Entscheidungsempfänger

Man war zum Objekt der Geopolitik geworden. Das geopolitische Desinteresse der Deutschen änderte sich nach 1989/90 nicht grundlegend, auch wenn der Historiker Hans-Peter Schwarz von Deutschland als der „Zentralmacht“ eines nicht länger geteilten Europas sprach. Es war ein Begriff, der die neue Rolle des vereinten Deutschlands bezeichnen sollte, aber er berührte die Deutschen nicht weiter, denn man war zunächst mit den sozioökonomischen Problemen der Vereinigung beschäftigt, und danach setzte man auf eine Weltordnung, in der wirtschaftliche Macht die entscheidende Größe war. Das war naheliegend, verfügte Deutschland doch vor allem über wirtschaftliche Macht.

Ukrainische Artilleristen im Donetsk: Der russische Angriffskrieg war ein Weckruf für die Welt.AP

Also beschäftigte man sich eher mit Geoökonomie als mit Geopolitik und setzte auf freie Märkte, wenn es um die Frage ging, von wo die erforderlichen Rohstoffe und Energieträger herkommen sollten, um langlebige und technisch avancierte Produkte herzustellen und sie in alle Welt zu exportieren.
Nun hatte die Geoökonomie seit jeher in der Geopolitik eine Rolle gespielt, aber sie war eine untergeordnete Größe des Politischen, eine Voraussetzung der Machtentfaltung.

Wer dominiert die Welt?

Die große geopolitische Kontroverse zwischen dem US-Amerikaner Alfred Thayer Mahan und dem Briten Halford Mackinder drehte sich am Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert um die Frage, welcher Raum global dominant sei: die Ozeane, wie Mahan nachzuweisen suchte, weil sie seit den Entdeckungsreisen der Portugiesen und Spanier und mit dem Aufstieg der Briten zum Zentrum des Welthandels geworden waren. Oder die großen Landmassen, die, so Mackinder, mit dem Bau der kontinentalen Eisenbahnlinien anstelle von Ochsenkarren und Pferdekutschen den Landraum verkehrstechnisch erschlossen hatten.

Die Frage, wer von den beiden richtig- und wer falschlag, befeuert bis heute die geopolitische Debatte: „Der Westen“ als transatlantische Allianz präferiert die Dominanz des Maritimen; Eurasien, das russische Gegenkonzept, das die Einheit eines Raumes von Dublin bis Wladiwostok dagegenstellt, hebt die Dominanz des Tellurischen hervor. Europa, der EU-Raum, ist zwischen beiden geopolitischen Entwürfen umstritten: Wird es den „Westen“ weiterhin geben, auch wenn sich die USA auf den indopazifischen Raum konzentrieren? Oder wird Europa politisch ein „Vorgebirge Asiens“ werden, wie Paul Valéry es genannt hat.

Deutschland sieht nur eine globalisierte Wirtschaft

Die Deutschen haben solche Fragen lange von sich ferngehalten, indem sie die Zukunft als eine der globalisierten Wirtschaft ansahen. In ihr sollten politische Zugehörigkeit wie ökonomische Abhängigkeit keine Rolle mehr spielen. Die Ströme von Gütern, Kapital und Informationen sollten politische Grenzen, die sich an geographischen Gegebenheiten orientierten, nicht mehr aufhalten. Die Erde war flach – oder würde es jedenfalls werden, wie die Propagandisten einer internetbasieren Ökonomie meinten.

Doch dann kam einiges dazwischen, was den Staaten und ihren Grenzen aufs Neue Gewicht verschaffte: die Migrationsbewegung aus dem globalen Süden in die Länder des wohlhabenden Nordens, die diese überfordert, die Covid-19-Pandemie, deren weltweite Ausbreitung entschleunigt werden musste, um der Impfstoffentwicklung Zeit zu verschaffen; der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine, in dem es – auch – um die Frage geht, ob militärische Eroberungen in Zukunft wieder ein Instrument der Politik sein werden, was in einer regelbasierten und wertgestützten Weltordnung nicht der Fall ist.

Putin bringt den Krieg zurück

Putins Angriffskrieg hat das spezifische Gewicht der Machtsorten wieder verändert: Neben die wirtschaftliche ist erneut die militärische Macht als politischer Faktor getreten. Damit sind Geoökonomie und Geopolitik wieder in ein Gleichgewicht gekommen, und das heißt, dass Sie miteinander darum konkurrieren, wer von beiden bei Entscheidungen den Ausschlag gibt.

Auch die Deutschen beschäftigen sich wieder mit geoökonomischen und geopolitischen Fragen und schauen besorgt auf die Grenzen der geopolitisch zusammenhängenden Räume. Die deutsche Politikwissenschaft hat bei all dem großen Nachholbedarf. Vor allem geht es nun darum zu klären, welche Rolle die Europäische Union weltweit spielen kann und was die Voraussetzungen dafür sind, dass es überhaupt eine Rolle gibt, der die Europäer gewachsen sind.


Herfried Münkler

Herfried Münkler hat an der Goethe-Universität in Frankfurt Politikwissenschaft, Philosophie und Germanistik studiert. Von 1992 bis 2018 hatte er an der Berliner Humboldt-Universität den Lehrstuhl für Theorie der Politik inne. Seine Bücher sind in zahlreiche Sprachen übersetzt; das jüngste von 2023 trägt den Titel „Welt in Aufruhr“.

Bild: Andreas Müller

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