“Tatort”-Saison: Ein Königsgrab | DIE ZEIT | ABC-Z

Der ARD-Sonntagabendkrimi ist ein wenig wie Kirche, bloß ohne Sommerpause. Der Tag der Sendung ist am Tage des Herrn, die Gemeinde groß und treu oder war das zumindest mal. In der Liturgie gibt es die Abkündigungen, das Verlesen von aktuellen Ereignissen, das Beten für die Toten. Für den Sonntagabendkrimi sei also hier an den verstorbenen Schauspieler Torsten Michaelis (17. August) erinnert, der als Stefan Bitomsky neun Folgen lang Vorgesetzter von Maria Furtwänglers Kommissarin Charlotte Lindholm war im Tatort Hannover (2007–12). Und an Horst Krause (5. September), der als Horst Krause mehr als die offiziellen 16 Jahre und vier Chefinnen lang als Revierpolizist diente im Brandenburger Polizeiruf (1999–2015).
Zum Farewell könnte der melancholische
Smash Hit Als ich fortging der Gruppe
Karussell aufgelegt werden. Das traurig-schöne Abschiedslied aus den letzten
Jahren der DDR, gesungen von Dirk Michaelis (Funfact: dem jüngeren Bruder von
Torsten), mag heute bei manchem sentimentale Erinnerungen an diese Zeit wecken.
Damals werden einige bei “Fortgehen” hingegen an den Ausreiseantrag
in den Westen gedacht haben, deren
Zahl in den 1980er-Jahren sprunghaft anstieg.
Popularisiert wurde Als ich fortging 1988 auch als Soundtrack der legendären Polizeiruf-Folge
Eifersucht, in dem, noch mehr Funfacts,
Horst Krause einen ersten Auftritt als lokaler Polizist (Name: Rolf Schön)
hatte. Und Dagmar Manzel ihr Debüt in der Krimireihe feierte in einer
Episodenrolle.
Vom Nürnberger Tatort ist
Manzel als Kommissarin Paula Ringelhahn bekanntlich beim letzten Mal fortgegangen nach zehn Folgen.
Weil Rosalie
Thomass als Nachfolgerin erst beim nächsten Mal
dazustößt, muss Kommissar Felix Voss (Fabian Hinrichs) im neuen Abenteuer Ich
sehe Dich (BR-Redaktion: Claudia Luzius) allein ermitteln. Wanda Goldwasser
(Eli Wasserscheid) aus dem Ermittlungsteam bekommt mehr Screentime und der
Kommissar wegen eines Sturzes auf die Schulter einen Chauffeur zugeordnet, Fred aus dem Archiv.
Den spielt Sigi Zimmerschied als großen Schweiger kurz vor der Rente. Fred ist ein Mann der Tat, der in Häuser reingeht, wenn keiner öffnet, der nervigen Nachbarn wirkungsvolle Ansagen macht und als Ein-Mann-Kavallerie am Ende den bewaffneten Täter unschädlich macht mit einem gezielten Schlag. Stünde Fred nicht unmittelbar vor dem Ruhestand, hätte er sich für einen kontrastreichen Sidekick in Nürnberg qualifiziert.
Der Fall von Ich sehe Dich ist nichts für Leute, die gerne Täter raten (Drehbuch: Max Färberböck, Catharina Schuchmann). Die ermittlungsstiftende Leiche ist zwei Jahre alt und ruft Verwunderung hervor: Der Fahrradladenbetreiber Andreas Schönfeld (Benjamin Schaefer) scheint ein ausnahmslos freundlicher und begabter junger Mann gewesen zu sein. Bei näherem Hinsehen, vor allem auf die vielen Fotos, die sich in seinem Haus auf Speicherkarten finden, erweist der Andi sich dann aber als überhaupt nicht nett.
Er hatte ahnungslose Frauen nicht nur aus der Distanz gestalkt und fotografiert, sondern manche auch über Stunden oder Tage vergewaltigt und gefoltert. Zu den Opfern gehört Lisa Blum
(Mavie Hörbiger), die nach einer halben Stunde mit Freund Stephan Gellert
(Alexander Simon) ins Spiel kommt; nach einer Stunde gesteht er ihr, Schönfeld erschlagen zu haben. Der Polizei versucht Gellert, einen Konzertbesuch in München als Alibi aufzutischen. Voss fragt dann nach Details und stellt trotz relativ umgehender Antworten im Anschluss fest: “Da sitzt einer vor dir, der lügt und lügt und lügt, und hat keine Ahnung davon, wie das geht.”
Das sind die schönen Anteile des Films: die Sprache, in der ein erfahrener Ermittler von seiner Arbeit spricht. Und davon, welche Herausforderung die Aufklärung des Falles für ihn ist: Der superliebe Andi war in Wirklichkeit ein Abgrund, aber der Täter Gellert muss trotzdem verhaftet werden, weil das mit dem Recht nun mal Sache des Staates ist.
Psychologisch macht der Fall dagegen wenig her. Andi wird angedeutet als Kind, das zur Mama (Marion Reuter) immer “Ja” gesagt hat. Sein Doppelleben wird vor allem motiviert durch einen Griff in die Mottenkiste des Kinos, wo von Psycho bis Das Schweigen der Lämmer Psychopathen und Frauenmörder erklärt werden als Muttersöhnchen, die Frauen sein wollen, also durch die Problematisierung und Stigmatisierung von Trans-Geschlechtlichkeit. Der Tatort zeigt in einer Rückblende Andi in seinem Frauenkostüm mit langer blonder Perücke und schwarzer Montur. Zwar nur kurz und unscharf und fast verschämt, sodass man sich gerade deswegen fragt, wieso es den Mummenschanz überhaupt noch gibt. Warum hält sich das diffamierende Filmbild vom gefährlichen Mann im Frauenkostüm so hartnäckig?
Ebenfalls eine zweifelhafte Vorstellung, in diesem Falle die von romantischer Liebe, wirft die Reaktion des Paares Blum und Gellert auf. Angesichts seiner drohenden Verhaftung reicht er ihr einen Giftcocktail, worüber sie wegdämmert und als upcoming Wasserleiche in der Wanne liegt. Während er sein Glas, aufgeschreckt durch den klingelnden Kommissar, unausgetrunken zu Boden wirft. Warum soll die Frau sterben wollen, wo der Peiniger doch tot ist? Nur weil dem geliebten Mann das Gefängnis droht? Ein Spaßvogel könnte sagen, immerhin muss Mavie Hörbiger diese außerdem blinde Lisa Blum konsequent als kindliches, ihrem Stephan unendlich dankbares Wesen spielen; das passt zu den staubigen Geschlechterbildern, derer sich der Tatort bedient.
In seiner Geschichte ist Ich sehe Dich wesentlich schlichter als in seiner Inszenierung. Wie der Tatort Nürnberg als Stadt erschließt, etwa das Kommissarsauto von oben mit der S-Bahn konkurrieren lässt (Kamera: Daniela Krapp), ist stimmungsvoll. Und wie in diese Bilder die Musik von Diego Noguera an unerwarteten Stellen dissonant hineinstürzt mit hartem Beat oder als kalter Synthie-Sound, macht Eindruck.