Habeck und Linnemann bei Maybrit Illner | ABC-Z

Wird der 29. Januar 2025 im deutschen Bundestag „ein historischer Tag“ gewesen sein? Wohl eher nicht, so leicht macht es einem die Historie nicht. Aber viele Menschen haben ihn so empfunden, weil er etwas geradezu prickelnd Neues gebracht hat: einen Abstimmungssieg im Parlament mit den Voten der AfD. Der Schrecken saß den Teilnehmern der Runde bei Maybrit Illner noch so stark in den Knochen, dass die erste halbe Stunde vor allem dafür draufging, CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann von einer Ecke in die andere zu treiben. Der lief mit, schwitzte wenig und zeigte kaum Knitterfalten.
An diesem Treiben der Union beteiligten sich anfangs so viele, Gastgeberin Maybrit Illner eingeschlossen, dass Vizekanzler Robert Habeck gar nicht so viel reden musste, wie er gewollt hätte. Aber vielleicht stimmt selbst das nicht mehr: Eigentlich ist er es wohl müde. Eigentlich hat er keinen Bock mehr. Wäre er jetzt Scholz, würde er sagen: „Ich bin es leid.“ Aber er ist nicht Scholz. Er ist Habeck. Also sagte er zu Carsten Linnemann Sachen wie: „Wenn Sie nicht verstehen, dass durch solche Wahlen (nämlich die von jenem annähernd historischen Mittwochnachmittag in Berlin) Bindungen und Machtverhältnisse entstehen (nämlich Bindungen zur AfD), dann haben Sie den Beruf verfehlt. Die Logik kann nicht zweigeteilt sein.“
Die feixenden blauen Männchen
Es gab noch andere Perlen, die nur überempfindliche Seelen beanstanden würden, besonders solche, die gern von „Hass und Hetze“ sprechen, aber wer etwas robuster ist, konnte seinen Spaß daran haben. Talkshows sind ja, um ein altes Missverständnis auszuräumen, nicht zur Aufklärung da, sondern zur Unterhaltung. Linnemann zum Beispiel bekräftigte, am heutigen Freitag für den Gesetzentwurf der Union stimmen zu wollen, denn man habe den vor sechs Wochen eingebracht, und wie stehe es um seine Glaubwürdigkeit, wenn er jetzt nicht tue, wovon er überzeugt sei? Er sei „ein freier Abgeordneter“. Worauf Habeck reagierte mit den Worten: „Herr Linnemann, freier Abgeordneter heißt nicht, dass man nicht ein denkender Abgeordneter ist. Wir haben immer wieder gezeigt, dass wir auch Dinge tun, die nicht im Wahlprogramm sehen, nur nicht durch das Mittel der Erpressung. Sie machen sich erpressbar, und jetzt versuchen Sie, uns zu erpressen.“ Darauf der Angesprochene: „Die AfD hatte 2021 zehn Prozent, heute hat sie das Doppelte. Daran tragen auch Sie als Wirtschaftsminister die Schuld. Und Herr Scholz, der nur geredet, nicht gehandelt hat.“
So stand es in der ersten Hälfte der Sendung vier gegen einen, denn auch Giovanni di Lorenzo, der Chefredakteur der „Zeit“, und ZDF-Rechtsexpertin Sarah Tacke waren von jenem Mittwochnachmittag erschüttert. Di Lorenzo sagte, er gehöre „zu den vielen, die bestürzt waren“, und sprach von „Dingen, die wir uns alle nicht hätten vorstellen können“, was ja ebenfalls in Richtung historischer Tag zielt. Und nachdem er noch einmal an „die feixenden Gesichter der AfD, die ratlosen Gesichter der CDU“ erinnert hatte, sagte er zu Linnemann: „Das Risiko, das Sie eingegangen sind, wird nicht zum Nutzen der Mitte sein.“ Auf den Gedanken, dass diese Mitte sich mal genauer definieren sollte, wenn sie so toll ist, wie sie von sich selbst behauptet, kam er nicht. Der Verdacht entstand, sie sei manchmal nur Mitte aus Trägheit, weil sie die Bewegung scheut, vom Mut einmal abgesehen, und weil sie am liebsten alles so ließe, wie es ist, obwohl sie spürt – diese Mitte –, dass wirkliche Sorglosigkeit mit dieser Haltung nicht mehr zu haben ist, denn da draußen feixen ganz viele blaue Männchen und machen einen Höllenlärm.
Von der Behördenüberforderung
Als wäre das den Teilnehmern der Runde selbst klar geworden, änderte sich plötzlich der Ton. Das Linnemann-Bashing als Ersatzhandlung für das unpraktikable Bashing des abwesenden Herrn Merz ließ spürbar nach (alle waren davon auch ein bisschen müde) und hörte schließlich fast ganz auf. Statt dessen brachte die zweite Halbzeit, nun ja, im Fußball würde man sagen: ein ausgewechseltes Team auf den Rasen. Jetzt wurde es sachlich. In der zweiten Hälfte setzte Maybrit Illner ihren prominentesten Gast heftig unter Druck und fragte Robert Habeck zum Beispiel, ob er, ob die Grünen nicht einmal Verantwortung übernehmen wollten für das, was in Deutschland migrationstechnisch gerade los sei. Habeck weiß sich ja immer zu verteidigen, auch diesmal, aber Illner ließ nicht locker, das mit dem „Verantwortung übernehmen“ gefiel ihr zu gut. Also fragte sie es noch einmal. Dann: „Jetzt soll es vor der Wahl einen zweiten Abschiebeflug geben. Empfinden Sie das nicht selbst als lächerlich?“
Er finde diese Diskussion im Wahlkampf unangemessen, sagte Habeck, und fuhr dann mit Details zur Abschiebeproblematik fort. Was man ihm zugutehalten muss: Er fand Worte der Selbstkritik und erklärte damit indirekt, warum es überhaupt zu dem fast, annähernd oder ein bisschen historischen 29. Januar kommen konnte. „Behördenüberforderung“ sei ihr aber nicht genug, sagte Illner, und Habeck antwortete tatsächlich: „Die Behörden arbeiten nicht gut zusammen. Und der Datenaustausch klappt nicht gut. Aber niemand sagt, dass wir die Situation so lassen wollen.“
Die Frage nach seiner Verantwortung
Illner wollte gleich wieder etwas entgegnen, aber da hatte Habeck, das alte Kämpferherz, noch einmal zur Watschn gegen die CDU ausgeholt: „Die Union sagt, niemand dürfe mehr Asyl beantragen. Das ist nicht die DNA der Bundesrepublik. Natürlich gibt es Grenzen der Belastbarkeit, aber wie geht man damit um? Bricht man Recht?“
„Sie machen das Gegenteil!“, rief Illner, als wäre sie plötzlich zur Merz-Personenschützerin mutiert. „Sie wollen den Familiennachzug erleichtern.“ Darauf Habeck: „Damit meinen wir, dass ein begrenzter Familiennachzug die Integrationskraft erhöht. Bessere Integration kann der Sicherheit des Landes helfen.“ Illner: „Noch einmal die Frage nach Ihrer Verantwortung.“ Habeck: „Was die finanzielle Belastung der Kommunen angeht, haben wir zu spät umgesteuert.“ Noch einmal Selbstkritik! Es war wunderbar. Fast wie bei den „Zwölf Geschworenen“.
Es ist ein einförmiges Ding um das Menschengeschlecht, steht bei Goethe irgendwo, und dann kommt bei ihm noch was über die Freiheit, aber das würde uns jetzt zu weit führen. Was aber bei der sogenannten Migrationsdebatte auffällt, sind Unschärfen, die etwas über das sonderbare deutsche Schwanken zwischen Ängstlichkeit, Moralismus und Hysterie sagen. Was die Medien durchaus einschließt. Deutlich mehr nämlich als die Hälfte der Bundesbürger, heißt es – auch bei den Grünen –, finden, es müsse mehr getan werden. Aber im neuen ZDF-Politbarometer taucht Migration als Sorge erst an vierter Stelle auf, mit schlappen 27 Prozent. Plötzlich soll „Aschaffenburg“ der Weckruf gewesen sein, als hätte es Berlin, Hamburg, Dresden, Duisburg, Mannheim, Solingen und Magdeburg nicht gegeben? Könnte es nicht das zweijährige Kind sein? Oder, um mit dem dramatischen Carsten Linnemann zu reden, „das zweijährige Kind im Bollerwagen“?
Giovanni di Lorenzo war der einzige in der Runde, der daran erinnerte, dass Deutschland eine „migrantische Realität“ hat, die nicht mehr wegzudenken sei, dass aber einiges im Argen liege, das nach Lösungen verlange. Die Migration werde nicht wirkungsvoll begrenzt. (Niemand erwähnte, dass auch die Anschläge auf Migranten zugenommen haben.) Also geht es weiter, in den nächsten Wochen und in den nächsten Monaten. Ob Friedrich Merz sich verzockt hat, wofür einiges spricht, wird sich später zeigen. Jetzt kommt erst einmal der historische Freitag.