Deutsche Sicherheitspolitik: Merz‘ neuer Nationaler Sicherheitsrat – In Planspielen sollen Politiker Entführungen durchexerzieren | ABC-Z

Friedrich Merz löst sein Wahlversprechen ein, einen Nationalen Sicherheitsrat einzurichten. Das Gremium soll Entscheidungen der Regierung vorbereiten, Krisenlagen managen – und die Minister strategisch schulen. Die offene Frage ist, ob alle mitmachen.
Die institutionellen Mechanismen, in denen Deutschland seine außen- und sicherheitspolitischen Positionen sucht, findet und umsetzt, wurden zuletzt vor über einem halben Jahrhundert verändert. Es war 1961, als das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit gegründet wurde. Und 1969 wandelte man den Bundesverteidigungsrat, der zeitweise von einem eigenen Ministerium geführt worden war, in einen Kabinettsausschuss namens Bundessicherheitsrat um, der die Regierung seitdem in sicherheits- und rüstungspolitischen Fragen berät.
Friedrich Merz hatte im Wahlkampf angekündigt, diese angestaubten Strukturen modernisieren zu wollen. Mit einem über 50 Jahre alten Instrumentenkasten, sagte der CDU-Vorsitzende Ende Januar bei einer außenpolitischen Grundsatzrede, sei Deutschland in der Welt nicht mehr ausreichend handlungsfähig.
Seine Vorstellung, das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung abzuschaffen und dessen Aufgaben in das Auswärtige Amt einzugliedern, hat Merz damals nicht öffentlich formuliert. Er ahnte wohl schon, dass das Ressort in späteren Koalitionsverhandlungen aus machtarithmetischen Gründen weiter gebraucht werden könnte – auch wenn es strukturell überflüssig ist. So kam es dann auch: Zwar verhandelten Union und SPD kurz über die Auflösung des Entwicklungshilferessorts, aber die Sozialdemokraten bestanden auf dem Ministerposten.
Nationaler Sicherheitsrat als neuer „Dreh- und Angelpunkt“
Wichtiger war Merz eine Weiterentwicklung des Bundessicherheitsrates, dessen Rolle sich in der Praxis zuletzt im Wesentlichen auf die Genehmigung oder Ablehnung von Rüstungsexporten beschränkte. Der CDU-Chef warb für die Gründung eines Nationalen Sicherheitsrates (NSR) als neuem „Dreh- und Angelpunkt für die kollektive politische Entscheidungsfindung der Bundesregierung in allen wesentlichen Fragen der Außen-, Sicherheits-, Entwicklungs- und Europapolitik“. Der NSR solle „der Ort sein für die Entwicklung einer strategischen Kultur“ in diesen Politikfeldern, externe Expertise einbinden und „in Krisenlagen alle relevanten Informationen der Bundesregierung zusammenführen, um ein möglichst umfangreiches und gemeinsames Lagebild zu schaffen“.
Diese Ankündigung setzt der zum Kanzler gewählte Merz jetzt um. Der NSR schaffte es in den Koalitionsvertrag, und auf der ersten Kabinettssitzung nach der Sommerpause am 27. August soll er ins Werk gesetzt werden. Der Leiter des Kanzlerbüros, Jacob Schrot, hat in den vergangenen Wochen eine Geschäftsordnung für das Gremium ausgearbeitet, die nun von der Regierung beschlossen werden wird. Geschaffen wird eine im Kanzleramt angesiedelte „Stabsstelle Nationaler Sicherheitsrat“, für die der Haushaltsausschuss des Bundestags 13 Planstellen bewilligte. Drei Referate mit den Aufgabenfeldern „Integriertes Lagebild“, „Strategische Vorausschau und Planung“ sowie eine Geschäftsstelle werden die Sitzungen des NSR unter Leitung von Schrot vorbereiten. Die Ressorts sollen Verbindungsbeamte und -offiziere in den Stab entsenden.
Der NSR selbst bleibt ein Kabinettsausschuss, dem unter Vorsitz des Kanzlers die Minister für Finanzen, Äußeres, Verteidigung, Inneres, Wirtschaft, Entwicklungshilfe, Justiz und Digitales sowie der Kanzleramtsminister angehören. Anlassbezogen können weitere Ressorts und – das ist neu – Vertreter verbündeter Staaten, der Nato oder der EU hinzugezogen werden. Auch die Sicherheitsbehörden des Bundes, Vertreter der Bundesländer und Wissenschaftler können eingeladen werden. Der NSR wird auf Einladung von Merz zu regelmäßigen Sitzungen zu strategischen Themen, aber auch lage- und krisenbezogen zusammentreten. Seine Beschlüsse können wie bisher bei Rüstungsexporten geheim bleiben, künftig aber bei Bedarf – das ist ebenfalls ein Novum – auch veröffentlicht werden. Auch spezielle Lagebilder zum Beispiel zu hybriden Bedrohungen sollen der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden.
Warum das Ganze?
Bleibt die Frage: Warum das Ganze? Weil die Ministerien trotz anlassbezogener Kooperation zum Beispiel in Staatssekretärsrunden bislang meist in ihren Silos arbeiten, Informationen nur in ungenügendem Umfang teilen – eindrucksvoll nachzulesen zum Beispiel im Abschlussbericht der Enquete-Kommission zum deutschen Afghanistan-Einsatz. Der NSR soll die Wissensressourcen bündeln, aufbereiten und die Bundesregierung so mit einer breiteren Informationsgrundlage für Entscheidungen in Sachen äußerer, innerer, digitaler und wirtschaftlicher Sicherheit versorgen. „Auf der Grundlage von integrierten Lagebildern zur nationalen Sicherheit können politische Entscheidungen im Sinne eines 360-Grad-Blicks auf einer umfassenden Informationsgrundlage vorbereitet und getroffen werden“, so heißt es in der Regierung.
Außerdem sollen mittels strategischer Vorausschau neben aktuellen Ereignissen auch mittel- und langfristige Bedrohungslagen antizipiert werden, um frühzeitig Handlungsoptionen entwickeln und entsprechende Vorbereitungen treffen zu können. Merz möchte eine Professionalisierung der deutschen Sicherheitspolitik, wozu auch eine Weiterbildung seiner Minister gehört: In Planspielen und Krisensimulationen sollen die Politiker künftig Lagen wie eine Flugzeugentführung oder Szenarien der militärischen und zivilen Gesamtverteidigung übungsweise durchexerzieren. Die „systematische Resilienz“ des Staates und seiner Exekutive, so heißt das im Behördendeutsch, soll auf diese Weise gestärkt werden. Handlungsbedarf gibt es durchaus: So nahmen manche Minister bis vor Kurzem noch ihre Mobiltelefone mit in vertrauliche Sitzungen.
Ob diese Ambitionen sich mit dem Vehikel Nationaler Sicherheitsrat tatsächlich operationalisieren lassen, ist eine offene Frage. Im Vergleich mit anderen Staaten – weltweit gibt es 60 vergleichbare Institutionen, deren Organisation in den vergangenen Wochen ausführlich analysiert wurde – ist die für das Alltagsgeschäft zuständige Stabsstelle im Kanzleramt schmal aufgestellt. Auf die Schaffung des Postens eines Nationalen Sicherheitsberaters wie in Präsidialsystemen verzichtet man, was dem Ressortprinzip geschuldet ist: In Deutschland leitet jeder Bundesminister innerhalb der vom Bundeskanzler vorgegebenen Richtlinien seinen Geschäftsbereich selbstständig und eigenverantwortlich.
In der Vergangenheit wurde diese Eigenverantwortung allerdings oft in das eifersüchtige Beharren auf den eigenen Zuständigkeiten übersetzt. So widersetzte sich das von der Grünen Annalena Baerbock geführte Auswärtige Amt in der Ampel-Koalition regelmäßig allen Versuchen des SPD-geführten Kanzleramts, außenpolitisch koordinierend einzugreifen. Daran scheiterte die bereits in der Ampel diskutierte Einführung eines NSR. Hilfreich ist nun, dass Kanzler Merz und Außenminister Johann Wadephul (CDU) das gleiche Parteibuch haben. Abzuwarten bleibt, wie kooperativ sich das von Boris Pistorius SPD-geführte Verteidigungsministerium geben wird. In den Koalitionsverhandlungen jedenfalls legten die Sozialdemokraten großen Wert auf die Formulierung, dass der NSR „im Rahmen des Ressortprinzips“ agieren solle.
Ob der neue Sicherheitsrat erfolgreich ist und der bislang übersichtlich ausgeprägten sicherheitspolitischen Strategiekultur Deutschlands einen Schub verleihen kann, das wird mithin letztlich von der Bereitschaft der einzelnen Ministerien abhängen, sich in das Projekt einzubringen. Ein Lackmustest dafür wird die Aktualisierung der Nationalen Sicherheitsstrategie, die der NSR betreuen soll. In ihrer Erstauflage war diese Strategie im Wesentlichen ein Projekt des Auswärtigen Amts, das sich die Federführung bei der Autorenschaft gesichert hatte. Heraus kam eine eher prosaische Beschreibung der Weltlage, der deutschen Interessen und Ziele.
Die zentrale Frage aber, wie man die begrenzten Ressourcen des Nationalstaats gegen welche Bedrohungen und wie konkret einzusetzen gedenkt, blieb unbeantwortet. Um diese Antwort geben zu können, ist nämlich eine Priorisierung erforderlich – die am Ende, nach Abstimmung mit den nachrangig eingestuften Ressortanliegen, nur der Kanzler leisten kann. Der Versuch von Merz, einen Nationalen Sicherheitsrat zu etablieren, ist deshalb folgerichtig. Ob dieses Gremium im deutschen, von unterschiedlichen sicherheitspolitischen Sichtweisen der Parteien geprägten Koalitionssystem aber tatsächlich funktioniert, werden erst die nächsten Monate zeigen.
Der NSR, so betreibt die Regierung Erwartungsmanagement, sei „keine eierlegende Wollmilchsau“, sondern ein Beitrag, der deutschen Sicherheitspolitik nach mehr als 50 Jahren eine zeitgemäße Struktur zu geben. Man möge diesem Versuch, eine Außenpolitik aus einem Guss zu gestalten, doch bitte „eine Chance geben“.
Der politische Korrespondent Thorsten Jungholt schreibt seit vielen Jahren über Bundeswehr und Sicherheitspolitik. Seinen Newsletter „Best of Thorsten Jungholt“ können Sie hier abonnieren.