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Deutsche Nachkriegskunst: Ausstellung „Strange!“ in Berlin | ABC-Z

Man lernt viele neue Namen in dieser Ausstellung. Etwa den von Albert Ebert. 1956 malte er im Stil eines Chagall-Schülers sein „Heizers Geburtstagsständchen II“: eine Nachtszene mit Engeln, die trompetend vom Himmel herabstürzen, einem Orchester mit Tuba und Schellenbaum, einer geisterhaften Ehefrau samt Kindern und einem Gespenst mit Ulbrichtbart im Brennofen. Ebert war selbst Heizer, im Jahr der Entstehung des Bildes versorgte er die Öfen in der Kunsthochschule Burg Giebichenstein in Halle, erst ein Stipendium der Ost-CDU ermöglichte ihm ein Leben als freier Maler in der DDR.

Oder Volker Stelzmann. Auf seinem Ölbild „Versuchung II“ scheinen zwei Männer einen dritten zu umarmen, aber wenn man genauer hinsieht, erkennt man, dass es nicht um Zärtlichkeiten geht, sondern um die Rekrutierung eines IM: Links flüstert ein Stasi-Agent mit Krawatte dem Mann in der Mitte seine Lockungen ins Ohr, rechts hält sein bulliger Helfer das Opfer fest, das vor Widerwillen den Mund verzieht, aber der Umklammerung nicht entkommt. Stelzmann, 1940 geboren, war Mitglied im DDR-Künstlerverband, Professor an der HGB Leipzig und häufiger Teilnehmer an der staatlichen Kunstausstellung, bevor er 1986 bei einer Reise nach Oberhausen in Westdeutschland blieb. Er galt als linientreu. Sein Gemälde von 1978 sagt etwas anderes.

Heizungskeller mit Engelschar: „Heizers Geburtstagsständchen II“ von albert Ebert, 1956bpk / Nationalgalerie, SMB / Jörg P. Anders

Die deutsche Kunst der Nachkriegszeit lässt sich unter vielen Stichworten rubrizieren. Der Begriff „Surrealismen“, den die Sammlung Scharf-Gerstenberg in ihrer Ausstellung von rund sechzig Werken aus den Sammlungen der Berliner Nationalgalerie verwendet, ist dabei eher ungewöhnlich. Denn der Surrealismus hatte als ästhetisches Programm nach 1945 eigentlich ausgespielt. Der Belgier Paul Delvaux fasste den motivischen Vorrat der Bewegung auf seinem 1961 entstandenen Großformat „Der Wachmann“, das die Ausstellung eröffnet, noch einmal zusammen: Eisenbahnen, Industrielandschaften, beleuchtete Fenster in Backsteinbauten, eine schlanke Schöne mit nackten Brüsten, ein bürgerliches Ehepaar mit Hüten, ein Uniformierter mit Laterne. Man könnte das Bild gut als Puzzle legen, es ist so vielgestaltig wie simpel, so bestrickend wie banal.

Die Ausstellung aber legt ein anderes Puzzle. Sie nutzt den Surrealismusbegriff als Suchscheinwerfer, um die Auseinandersetzung der Künstler mit der Realität, ihrer Realität im geteilten Deutschland, auszuleuchten. Dass dabei die Ostkunst gegenüber der Westkunst ein klares Übergewicht hat, ist nicht nur der Ankaufspolitik der Nationalgalerie in den Jahren vor und nach der Wiedervereinigung zu verdanken. Es hat auch damit zu tun, dass Ab­strak­tion und Informel in der DDR als bürgerliche Verfallsstile verpönt und die figurativen Traditionen kanonisch waren, während es sich in der Bundesrepublik genau umgekehrt verhielt. Ein Maler wie Hans Platschek lebte hier mit seinem Bild „Die Führungskraft“ von 1970 quasi im inneren Exil. Im Arbeiter-und-Bauern-Staat hätte ihm das Porträt eines breit hinter seinem Schreibtisch thronenden Funktionärs dagegen politische Probleme eingetragen – es sei denn, er hätte es einfach in „Der Kapitalist“ umgetauft.

Eine Reizfigur in Ost und West: „Die Führungskraft“ von Hans Platschek, 1970
Eine Reizfigur in Ost und West: „Die Führungskraft“ von Hans Platschek, 1970bpk / Nationalgalerie, SMB / Jörg P. Anders

Der Scheinwerfer der Ausstellung funktioniert so gut, weil ihm das, was er sucht, entgegenkommt. Das Leben im Sozialismus war selbst surreal, die Kunst musste ihm nur eine Form geben. Die Friseurszene in Sighard Gilles „Selbst mit Friseuse“ driftet ganz ungezwungen ins Imaginäre. Der Hinterhof in Günter Richters „Ballspieler“ ist wie auf christlichen Allegorien von Unheil verheißenden anthropomorphen Wolkengestalten überwölbt. Die hölzerne Mädchenfigur in Gudrun Brünes „Die Modellpuppe“ wird auch ohne Lesehilfe zum Sinnbild eines zerbrochenen Frauenlebens.

Das Figurative hat dem Abstrakten voraus, dass es nicht nur als Stilgeste an der Geschichte teilhat. Ein typisches Westbild wie Klaus Fußmanns „Wand I“ von 1968 betrachtet man heute ohne besonderes Interesse. Die Werke der Ostkünstler dagegen erzählen vom Aufstieg und Untergang der DDR. Das Por­trät, das Wolfgang Peuker 1971 von seiner ersten Frau gemalt hat, zeigt Annette Krisper vor dem knallbunten, von Autos strotzenden Alexanderplatz. Seine zweite Frau, die ebenfalls Annette hieß, malte Peuker fünfzehn Jahre später im schwarzen Mantel vor dem dunkelgrauen Brandenburger Tor. Ihr Gesicht ist so bleich wie der Himmel. So sehen Lagerinsassen aus.

Bildnis zerbrochenen Frauenlebens: „Die Modellpuppe“ von Gudrun Brüne, 1987
Bildnis zerbrochenen Frauenlebens: „Die Modellpuppe“ von Gudrun Brüne, 1987Staatliche Museen zu Berlin/Andres Kilger/VG Bild-Kunst, Bonn 2025

Die Ausstellung hat keinen theoretischen Anspruch. Das muss sie auch nicht, denn ihr Erkenntnisgewinn ergibt sich aus dem, was man sieht, nicht aus einem kuratorischen Programm. Auf einmal steht man vor einem „Kain“ von Harald Metzkes: ein Kraftkerl in apokalyptischer Landschaft, frierend, allein. Das Bild entstand 1968. Das war das Jahr der Studentenunruhen, der Wahl Nixons, der Tet-Offensive, des Massakers von My Lai. Metzkes aber denkt an den Prager Frühling und den biblischen Brudermord, der sich in ihm spiegelt. Der Sozialismus erschlägt seinen Zwilling. Man kann das Bild auch anders verstehen. Aber wie man es auch liest: Es behält seine Kraft.

Strange! Surrealismen 1950–1990 aus den Sammlungen der Nationalgalerie. Sammlung Scharf-Gerstenberg, Berlin, bis zum 16. November. Kein Katalog.

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