Deutsche Fans bei der Darts-WM: Gezielte Pfiffe im Palast – Sport | ABC-Z
Kai Gotthardt aus Esslingen war bisher nur Darts-Insidern ein Begriff. In der ersten Woche der Weltmeisterschaft in London allerdings machte der 29-Jährige von sich reden. Mitten im Match gegen den Schotten Alan Soutar brach Gotthardt der Dartspfeil entzwei – und nun hatte er ein Problem. Sein Ersatzset hatte er am anderen Ende des Alexandra Palace gelagert, und so dauerte es, ehe das Spiel fortgesetzt werden konnte. Während Gotthardt hinter den Vorhängen ins Schwitzen kam, gab sein Gegner auf der Bühne den Pausenfüller, der ausgebildete Feuerwehrmann versuchte die Situation zu retten. Für seine Einlagen gab es aber nicht nur Beifall, nein, im Ally Pally waren Pfiffe zu hören. Ganz offenbar Pfiffe deutscher Fans gegen ihn.
Feiern, grölen, torkeln – das gehört im Publikum der Darts-Weltmeisterschaft dazu wie die Scheibe auf der Bühne und der Schaft zum Pfeil. Deutsche Anhänger fallen bei Darts-Turnieren allerdings immer häufiger verbal auf, wie unlängst im Spiel zwischen Gotthardt und Soutar. Einige wenige beschränken sich nicht aufs Feiern oder das Anfeuern eines Spielers, sondern erweitern das Spektrum ums Ausbuhen des Gegners und um Zwischenpfiffe.
:„Floor is pfui, stage is hui“
Der Nürnberger Dartsprofi Ricardo Pietreczko zieht bei der WM in London in die nächste Runde ein – und hebt die Kunst des Fränglisch-Sprechens auf ein neues Level.
Gotthardt selbst hatte seine Wahrnehmung nach dem Spiel gegen Soutar auf der Pressekonferenz zusammengefasst. „Irgendwann war es mir zu viel, auch gegenüber Alan Soutar“, sagte Gotthardt, der hauptsächlich im ersten Teil der Partie mehrmals Richtung Fans signalisiert hatte, man möge sich beruhigen, „dass es nicht unsportlich wird“. Es wurde dann besser, auch für Gotthardt: Er drehte das Match und zog bei seinem WM-Debüt in Runde zwei ein, wo ihn am Freitag der favorisierte Brite Stephen Bunting erwartet.
Nun mag man einwenden, dass Schmähungen des Gegners im Weltsport eine lange Geschichte haben. Etwa im Fußball, wo „Zieht den Bayern die Lederhosen aus“ noch zu den harmlosen Varianten zählt, häufig wird es deutlich heftiger; Pfiffe und Buhrufe gehören in den meisten Stadien zum Alltag. Im Unterschied zum Fußball entfalten einzelne deutlich hörbare Signale aus dem Publikum beim Darts allerdings eine größere, unmittelbare Wirkung: Spieler werden in der entscheidenden Konzentrationsphase gestört – so können gezielte Pfiffe dazu führen, dass der Pfeil dadurch das Ziel verfehlt.
Unvergessen sind die deutschen Fanpfiffe gegen den Waliser Gerwyn Price vor zwei Jahren
Es sei erwähnt, dass sich spätestens beim Betreten der Pforte zum Alexandra Palace so gut wie jeder Ticketbesitzer anders verhält als hoffentlich sonst im Leben. Das macht ja den Reiz aus, den Wesenskern der Faszination Darts: Der Alexandra Palace, kurz Ally Pally, ist wie ein geschützter Raum, der den Ausbruch aus dem Alltag erlaubt, fast schon erfordert. Die Veranstaltung ist im Ansatz vergleichbar mit Karneval oder Oktoberfest. Verkleidet, ob als Seeräuber, Super-Mario oder Schlumpf, schätzen die Leute hier plötzlich den um sich greifenden Bierdunst und die wilden Partybeats. What happens in Ally Pally, stays in Ally Pally. Mit dem Effekt, dass der Anstand bisweilen komplett in Vergessenheit gerät.
Auffällig im Ally Pally: Die deutschen Gegner werden nicht obligatorisch ausgepfiffen, jedoch dann, wenn es um die Entscheidung geht. Im Erstrundenspiel des Nürnbergers Ricardo Pietreczko am Dienstag gegen den Chinesen Zong Xiao Chen war in der voll besetzten Westhalle von Schmähungen nichts zu vernehmen. Allerdings marschierte der Deutsche gegen den Außenseiter auch relativ entspannt durchs Match und gewann klar mit 3:0. Im Duell Gotthardts mit dem Schotten ging es stattdessen besonders in der ersten Spielhälfte sehr eng zu – Gotthardt lag 0:1 zurück. Und so fühlte man sich an unrühmliche deutsche Fanperformances der jüngeren Vergangenheit erinnert.
Unvergessen werden die deutschen Fanpfiffe gegen den Waliser Gerwyn Price vor zwei Jahren bleiben. Vor lauter Verzweiflung setzte sich Price im Viertefinalduell mit dem Saarwellinger Gabriel Clemens mitten im Match Ohrenschützer auf – und verlor trotzdem. Der prominenteste Fall im vergangenen Jahr hatte sich im Drittrundenspiel zwischen Pietreczko und dem späteren Weltmeister Luke Humphries ereignet. Der Deutsche führte bereits 3:1, hatte Chancen, den nötigen vierten Satz zu holen. Die überwiegend britischen Fans respektierten dies, jedenfalls waren nahezu keine Pfiffe zu hören. Dann allerdings holte der Engländer Humphries auf – und wurde bis zu seinem verwandelten Matchdart zum 4:3 von manchen Fans fortwährend mit Pfiffen bedacht. Einige wenige hätten das Spiel „ruiniert“, so Humphries, was ihn „stark beeinträchtigt“ habe. Pietreczko selbst hat die Darts-Fangemeinde stets darum gebeten, auf Schmähungen zu verzichten, auch vor Beginn der diesjährigen WM. Manche pfeifen allerdings darauf.
Mehr als 20 Prozent der Tickets gingen dieses Jahr, ähnlich wie 2023/24, nach Deutschland, Österreich und die Schweiz, wie der Dartsweltverband PDC mitteilt. Im Ally Pally sind – abgesehen vom Übergewicht der englischen Heimfans – zudem eine große Zahl an Niederländern anzutreffen. Sie fallen weniger durch Zwischentöne auf, mehr durch ihren orangen Farbton.