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Deutsche Einheit: Lenin steht in Schwerin, Berlin und Gelsenkirchen | ABC-Z

Als Sigurd Blümcke das letzte Mal vor Lenin stand, hat er ihn beschimpft. Auf Russisch, damit Lenin ihn versteht. „Du bist ein Verbrecher! Du gehörst in die Hölle“, rief Blümcke. Mitte Juni war das, ein heißer Tag. Eigentlich zu heiß für Blümcke mit seinen 93 Jahren. Aber es musste sein – für seine in Moskau erschossenen Freunde. Ein paar Monate später starrt Lenin noch immer auf die Straßenkreuzung in Schwerin. Hinter ihm ragt ein Plattenbau in den Himmel. Vor der Wende wurde der Große Dreesch einmal als das am schönsten gelegene Neubaugebiet der DDR bezeichnet. Die Lage mag es noch sein. Die Platte hinter Lenin aber ist so trist, wie man sich eine Platte nur vorstellen kann, und das Viertel gilt längst als Brennpunkt.

Hier also steht Lenin mit den Händen im Mantel und trotzt seit Jahrzehnten dem Wind. Auf den ersten Blick auf ihn könnte man meinen, das mit der Wende und der Einheit vor 35 Jahren war nur ein Traum. Doch schaut man genauer hin, sieht man es: Vor Lenin hat irgendjemand „Sau“ auf den Boden geschrieben, seinen Schuh mit weißer und roter Farbe beschmiert. Auch die Erklärtafel ist angesprüht worden, der Hinweis auf die Millionen Opfer des Kommunismus darunter verborgen. Spinnweben hängen an Lenins Kinnbart. Drei fette Tauben sind seine einzige Gesellschaft – und sein Kopf verrät, dass es keine nette ist. Aber dennoch: Lenin ist da. Und zwar in gewaltiger Größe, mehr als drei Meter hoch, aus Bronze gegossen. Von wegen „Goodbye Lenin“.

Lenin wird verhüllt: Protestaktion der Vertreter von Opferverbänden im Juni 2025 in Schwerindpa

Blümcke will das nicht hinnehmen, nicht nach dem, was er erleiden musste. Er lebt mit seiner Frau im Dorf Friedewalde im äußersten Nordosten Nordrhein-Westfalens. Hier kümmert er sich um seine Fische, den Garten, sägt Holz, formt Skulpturen und widmet sich der klassisch historischen Reitkunst. Hier hat er auch nach vielen Jahrzehnten des Schweigens ein Buch über seine Jugend geschrieben und ein Drehbuch, von dem er hofft, dass es eines Tages verfilmt wird, damit die Menschen verstehen, was Kommunismus bedeutet und wofür Lenin steht, nämlich „Diktatur, Gewalt und Mord“, wie Blümcke sagt.

Geboren wurde er im brandenburgischen Werder. Er war noch ein Kind, als er in den letzten Kriegstagen an die Front musste. Er erlebte die Gräuel des Krieges. Als die Rote Armee kam, bedeutete das für Blümcke aber kein Ende des Schreckens. Nun sah er Plünderungen, Erschießungen und Vergewaltigungen. „So richtig befreit wurden wir im Osten nicht“, sagt er. „Wir hatten nur einen neuen Dienstherren. Aus Adolf wurde Josef.“ In der Schule gehörten nun Marx und Lenin zum Lehrplan. Blümcke musste Lenins Dekrete auswendig lernen. Der Sozialismus sollte ihm und seinen Mitschülern eingehämmert werden, sagt er. „Wir wollten nicht noch einmal einer Diktatur dienen.“ Also leisteten sie Widerstand, nicht mit Gewalt, sondern mit Worten. Sie schrieben Flugblätter, die sie nachts in die Briefkästen warfen: „Die SED will nur die Diktatur und selbstherrlich regieren! So etwas hatten wir schon einmal!“

„Es waren meine Freunde“

Im Oktober 1950 wurde Blümcke verhaftet. Bis heute erinnert er sich an jedes Detail: die Kellerzelle, die Einzelhaft, die nächtlichen Verhöre in Handschellen, die Schläge und die Tritte, die Tage und Nächte eingesperrt in der Stehzelle. Rund 50 Werderaner wurden damals zwischen 1950 und 1952 inhaftiert. Jugendliche und junge Erwachsene, Schüler und Studenten. Zwölf kamen ins Lager nach Sibirien. Acht wurden 1952 in Moskau im Butyrka-Gefängnis hingerichtet. „Es waren meine Freunde“, sagt Blümcke. Ihre Leichen wurden verbrannt und die Asche auf dem Donskoje-Friedhof verscharrt, Feld Nummer 3. Für Blümcke ist das „Lenins Erbe“. Er habe die Geheimpolizei Tscheka gegründet, womit die Ermordung von Millionen ihren Anfang nahm. „Das ist Lenins Werk“, sagt Blümcke.

Er selbst kam 1951 bei einem Gefangenenaustausch frei, konnte in den Westen fliehen und dort sein Leben leben. Ein schönes Leben, wie er sagt. Er konnte erleben, wie der Sozialismus zusammenbrach, das Land wieder vereint war, seine Enkel erwachsen wurden. Doch Lenin verschwand einfach nicht, auch nicht mit der Wende. Zwar musste er vielerorts weichen, aber hier und da begegnet man ihm noch immer – oder auch wieder. An verlassenen Orten, in Gewerbegebieten, ja selbst im Westen. Manchmal dient er als Vorbild, manchmal als das Gegenteil, wie etwa auf dem „Arschlochpfad“ rund 60 Kilometer entfernt von Schwerin , wo Lenin mit Trump, Erdoğan und anderen im Wald steht. Und dann gibt es auch noch die Fälle, in denen es erst einmal gar nicht um Politik geht. Dann aber doch irgendwie, zumindest ein bisschen.

Lenin im Gewerbegebiet in Berlin-Neukölln
Lenin im Gewerbegebiet in Berlin-NeuköllnMichael Hinz

In Berlin findet man Lenin in einem Gewerbegebiet in Neukölln. „Feuerwehrzufahrt freihalten“ steht auf einem Schild zu seinen Füßen. Die Geschichte, wie Lenin hierherkam, hat mit einem Wessi, mit Klaus Zapf, zu tun. 1973 fuhr der mit einem alten VW-Käfer nach Westberlin, als Erinnerung an die Heimat nur ein Kasten Palmbräu im Fußraum. Zapf wollte dem Dienst fürs Vaterland entgehen. Und er liebäugelte mit dem Osten. Das zumindest wird über ihn erzählt, wie so vieles. Jedenfalls baute er Deutschlands größtes Umzugsunternehmen auf, ein sozialistischer Kapitalist, und kaufte im Jahr 2002 seinen 2,5 Tonnen schweren Bronze-Lenin für 4857,27 Euro. Lenin hatte bis dato schon eine bewegte Vergangenheit hinter sich: Ursprünglich aus Baschkortostan stammend und für einen Moskauer Schmelzofen vorgesehen, sei er von der russischen Armee nach Berlin geschmuggelt worden, so soll es der Verkäufer erzählt haben. Nun also steht Lenin in Neukölln, und manche, die ihn sehen, halten ihn für den 2014 verstorbenen Klaus Zapf, andere für Ronald McDonald. Ein Schlagzeuger hat auf ihm rumgetrommelt. Ein Künstler seine Patina abgeschabt.

Sven Reinholz, der Chef von Zapf Umzüge, am 16. September in der Firmenzentrale
Sven Reinholz, der Chef von Zapf Umzüge, am 16. September in der FirmenzentraleMichael Hinz

Chef von Zapf Umzüge ist mittlerweile Sven Reinholz. Er ist das, was man einen Baum von einem Kerl nennt. „Der Alte hat natürlich erkannt, dass Lenin etwas ist, womit man provozieren kann und was auch seine linke, sozialistische Haltung zum Ausdruck bringt“, sagt Reinholz. Er dagegen hat eine sehr pragmatische Sicht auf den Lenin vor der Tür. Der sei nun einmal ein Liebling vom Chef gewesen und stehe deshalb „da jetzt halt rum“. Zudem sei er tonnenschwer, und „schon deshalb räumen wir den nicht weg“. Dabei gab es sogar eine Kaufanfrage. Irgendein Reicher wollte Lenin auf eine Mittelmeerinsel stellen. „Wir haben sofort abgeblockt. Der Alte würde sich im Grab umdrehen, wenn wir den verkaufen“, erzählt Reinholz. „Würde Lenin nirgendwo mehr stehen, hätte man vielleicht auch keinen Punkt mehr, um sich an ihn und das, was er gemacht hat, zu erinnern“, sagt er dann noch. Mit der Bilderstürmerei sei das so eine Sache: „Es sind Zeitzeugen, an denen man sich dann auch abarbeiten kann.“

Klaus Zapf kaufte Lenin und seitdem gehört der zum Umzugsunternehmen dazu.
Klaus Zapf kaufte Lenin und seitdem gehört der zum Umzugsunternehmen dazu.Michael Hinz

Lenin wird also vorerst im Neuköllner Gewerbegebiet stehen bleiben. Und wahrscheinlich werden sich auch weiterhin Mitarbeiter des Umzugsunternehmens an seiner Zeitungsrolle den Kopf stoßen, Vögel das Zielen üben und irgendwelche Künstler sich irgendeine Lenin-Kunst ausdenken, bei der Lenin sich wahrscheinlich im Grab umdrehen würde, läge er nicht noch immer im Moskauer Mausoleum.

Auch in Gelsenkirchen steht ein Lenin. Im Stadtteil Horst. Neben ihm steht Karl Marx. Wie große silberne Gartenzwerge sähen die beiden aus, schrieb jüngst die „taz“. Ein Baum spendet Schatten, Blümchen blühen bunt in der Nähe, und der Rasen glänzt grün. Es ist September, bundesweiter Warntag, und Felix Heinz Holtschke sieht das Ganze das erste Mal. „Es wirkt aus der Zeit gefallen“, sagt er. Dann geht die Sirene neben Lenin los.

Lenin und Marx in Gelsenkirchen
Lenin und Marx in GelsenkirchenFabian Strauch

Holtschke wurde 1950 in Niesky in der Oberlausitz geboren. Als er 1993 erstmals Einsicht in seine Stasiakte hatte, rund 3000 Seiten dick, sah er vor sich ein „erschreckendes Dokument der Überwachung, der Bespitzelung und der Zersetzung“, besser als jedes Tagebuch. Es beginnt mit einer Fahrradtour in die Tschechoslowakei, einen Sehnsuchtsort, wie Holtschke sagt. Die Tour führte den 18 Jahre alten Schüler und seine Freunde nach Prag. Am 21. August 1968 stand Holtschke auf dem Wenzelsplatz. Es war der Tag, an dem die ersten sowjetischen Panzer die Stadt erreichten und die Sowjetunion den Prager Frühling gewaltsam zerschlug. Holtschke sah die Panzer rollen. „Dort konnte man in das wahre Gesicht des Kommunismus blicken“, sagt er. Später, im Ostberliner Prenzlauer Berg, fing die Überwachung an, die Wanzen in der Wohnung, abgehörte Telefonate, abgefangene Briefe, Menschen aus dem engsten Umfeld, die Holtschke für die Stasi bespitzelten. Auch sein bester Freund gehörte dazu. All das erfuhr Holtschke erst nach der Wende. Heute sagt er: „Ich hätte keine ruhige Minute gehabt, wenn ich nicht gewusst hätte, welches Schwein mich verraten hat.“

Felix Heinz Holtschke vor Lenin und Marx in Gelsenkirchen
Felix Heinz Holtschke vor Lenin und Marx in GelsenkirchenFabian Strauch

Holtschke sagt von sich, dass er „kein aktiver Kämpfer gegen das DDR-Regime“ gewesen sei. Aber er wollte reisen und die Welt kennenlernen, horchte schon als Schüler mit dem Kofferradio in die Welt hinaus. Von „Voice of America“ bis „Radio Kabul“. Als junger Mann bereiste er den Ostblock, nutzte alle Möglichkeiten, die er hatte. „Aber irgendwann war Schluss. Und dann fragt man sich als junger Mensch: Warum darf ich nicht nach Westberlin, warum darf ich nicht nach Frankfurt am Main, warum darf ich nicht nach Paris oder London“, sagt Holtschke. Jeden Morgen, wenn er aus dem Fenster blickte, sah er von seinem Arbeitsplatz nahe dem Checkpoint Charlie den Westen.

Es folgten ein illegaler Fluchtversuch, der scheiterte, fünf Ausreiseanträge, die allesamt abgelehnt wurden. Im November 1984 wurde Holtschke verhaftet: früh am Morgen auf offener Straße im Ostberliner Bötzowviertel. Ein Lada bremst, die Türen werden aufgerissen, Holtschke hineingestoßen. Rechts und links von ihm Stasileute, die ihn warnen, dass sie bei einem Fluchtversuch sofort von der Schusswaffe Gebrauch machen. Es geht kreuz und quer durch das noch finstere Ostberlin. Erster Halt ist die Stasi-Zen­trale an der Magdalenenstraße. Holtschke wird in einen Vernehmungsraum gestoßen. Der Vernehmungsoffizier empfängt ihn mit einer Makarow-Pistole auf dem Schreibtisch. Am nächsten Morgen geht es in Handschellen weiter ins Stasi-Gefängnis Hohenschönhausen.

Spitzname „Roter Terror“

Das Berliner Stadtgericht verurteilte Holtschke zu drei Jahren Haft. Nach einem Zwischenaufenthalt in der Haftanstalt Berlin-Rummelsburg kam er nach Cottbus. Schon am ersten Tag musste er seinen „Lieblingsaufseher“, Spitzname „Roter Terror“, kennenlernen. Der verprügelte die Häftlinge, trat ihnen in den Unterleib, ließ sie im kalten Wasser sitzen. Im Dezember 1985 kam Holtschke frei – im Zuge des Häftlingsfreikaufs durch die Bundesrepublik Deutschland.

„So kam ich in den goldenen Westen“, sagt er. Er arbeitete als Diplom-Ingenieur bei Bayer. 64 Länder hat er bereist, die Wende am Amazonas erlebt, auch wenn er im Nachhinein lieber in Berlin gewesen wäre. Er versucht, der heutigen Jugend zu erzählen, wie es war in der DDR. Dass sie nicht nur ein „Spreewaldgurkenland“ war, nicht nur ein bisschen ulkig, sondern „eben auch eine Diktatur“.

Die Tradition des stalinistischen Lenin-Kults

Und an genau das erinnert Holtschke der Gelsenkirchener Lenin. Denkt er an Lenin, führt ihn das wieder nach Hohenschönhausen. Auch für ihn ist das eine direkte Verbindung, von Lenin, der mit der Geheimpolizei Tscheka ein „terroristisches Überwachungs- und Unterdrückungssystem“ gründete, zum SED-Regime, das diese Tradition fortsetzte. „Wenn ich den Genossen Lenin hier sehe, 35 Jahre nach der Wiedervereinigung, ist es schon bedrückend, dass wir diese Negativgeschichte nicht aufgearbeitet haben“, sagt er. Es brauche weder Straßen mit Lenins Namen noch irgendwelche Statuen oder Denkmäler. Es sei eine Schwäche, sich von derartigen Relikten des Kommunismus nicht zu distanzieren.

In Gelsenkirchen gibt es eine kleine Tafel mit einer Distanzierung, aufgestellt von der Stadt. Nur findet man sie kaum. Die Tafel steht auf der anderen Seite der Straßenkreuzung. Auf ihr steht unter anderem geschrieben, dass Lenins Geheimpolizei Tausende Menschen erschoss und politische Gegner in Straflager einsperrte. Auch, dass Stalin nach Lenins Tod einen Lenin-Kult schuf und Tausende Lenin-Statuen aufstellen ließ und dass die neue Besitzerin der Statue sich in die Tradition des stalinistischen Lenin-Kults stelle.

Die Vorsitzende der MLPD, Gabi Fechnter, bei der Enthüllung von Lenin am 20. Juni 2020
Die Vorsitzende der MLPD, Gabi Fechnter, bei der Enthüllung von Lenin am 20. Juni 2020dpa

Die neue Besitzerin ist eine Splitterpartei, der der Verfassungsschutz fortgesetzte Bedeutungslosigkeit bescheinigt: die Marxistisch-Leninistische Partei Deutschlands. Die hat in Gelsenkirchen-Horst in einem imposanten Gebäude aus Backstein, das einmal eine Sparkasse war, ihre Zentrale. Und davor, quasi im Vorgarten, steht seit gut fünf Jahren ihr Lenin. Damals sorgte das für Schlagzeilen. Von einer „Riesendebatte“ spricht die Parteivorsitzende Gabi Fechtner. „Viele Leute fanden das gut und haben sich mit Lenin beschäftigt. Es gab aber auch viel Gegenwind.“ Ihren Lenin hatte die Partei, genauer der Hausmeister, im Internet entdeckt. Ursprünglich stand er im tschechischen Hořovice, über einen österreichischen Händler gelangte er nach Gelsenkirchen. Nun kommen Menschen hierher, um Lenin zu fotografieren oder Selfies zu machen. Es seien sozialistische Menschen aus der halben Welt, sagt die Parteichefin. Überhaupt treffe man sich am Lenin. „Es ist jetzt nicht jeder für Lenin, aber er gehört dazu. Die Leute sagen sehr oft, hier sei das schönste Fleckchen in Horst. Es ist ein bisschen grün, wir haben schöne Blumen, und es ist ordentlich. Vieles hier in der Gegend ist verwahrlost. Die Stadt macht da sehr wenig.“

Im Gespräch betont Fechtner, dass ihre Partei ein riesiges Interesse habe, „wirkliche Opfer und Verbrechen im Sozialismus aufzuarbeiten und konkret aufzuklären“. In der Sowjetunion und in der DDR sei der Sozialismus verraten worden. „Das, was dort passierte, wird jetzt alles dem Sozialismus angelastet. Das finde ich nicht richtig. Wir sind zum Beispiel sehr kritisch in Bezug auf die DDR und die SED. Da ging es eigentlich nur die ersten Jahre Richtung Sozialismus. Aber das kann man nicht Lenin anlasten, was dann nach 1956 gemacht wurde“, sagt die Parteivorsitzende. Absurd findet sie das. Lenin sei 1924 gestorben und habe für die großen Fortschritte im Aufbau des Sozialismus gestanden.

„Rotlichtbestrahlung“

Welche das sein sollen, kann man auf einem großen Schild direkt vor Lenin nachlesen. Fechtner lässt es sich aber auch nicht nehmen, einige aufzuzählen: „Er hat mit dem Dekret für den Frieden den Ersten Weltkrieg in Russland beendet, gegen die Armut wurde Land an die kleinen Bauern verteilt, der Achtstundentag eingeführt.“ Unter Stalin seien auch Unschuldige ums Leben gekommen, fährt Fechtner fort. „Bei Lenin haben wir aber bislang keine Hinweise darauf.“ Sie sehe auch den Kontext nicht, „wenn sich Menschen wegen Fehlern der SED von Lenin-Denkmälern verletzt fühlen, wie es die Opferbeauftragte Evelyn Zupke darstellt“. Hier, in der alten Sparkasse, ist die Lenin-Welt heilig. Vielleicht sollte man an dieser Stelle noch erwähnen, dass Fechtner, Jahrgang 1977, aus Baden-Württemberg stammt.

Die SED-Opferbeauftragte Evelyn Zupke musste als Kind und Jugendliche Leninismus im Rahmen der Staatsbürgerkunde lernen. Wie Blümcke und Holtschke bekam sie die „Rotlichtbestrahlung“ verpasst. So ging es von Generation zu Generation. „Man musste die Propaganda stumpf abarbeiten und auswendig lernen.“ Die Menschen seien einer Gehirnwäsche unterzogen worden. Bis zu einem gewissen Alter, erzählt Zupke, stellte sie das auch nicht infrage, irgendwann aber schon. Als Bürgerrechtlerin war sie an der friedlichen Revolution in der DDR beteiligt. Auch für Zupke führt die Spur der Gewalt, des Blutes und des Terrors zu Lenin. „Die Opfer der SED-Diktatur stehen in einem direkten Zusammenhang zu diesen Symbolen, weil die Ideologie Grundlage des Handelns in der SED-Diktatur war und die Legitimation für die Repression“, sagt sie. Und es gehöre zur Aufarbeitung dazu, „wie wir im öffentlichen Raum mit Symbolen umgehen, die die sozialistische kommunistische Diktatur vertreten“. Es sei ein Problem, wenn solche Symbole fraglos im öffentlichen Raum stünden oder sogar verteidigt würden. „Es ist das falsche Signal 35 Jahre nach der Wiedervereinigung. Für die Opfer der SED-Diktatur, von denen es Hunderttausende gab, wirkt das wie eine Legitimation auch im Nachhinein.“

Die SED-Opferbeauftragte Evelyn Zupke am 16. September in Berlin
Die SED-Opferbeauftragte Evelyn Zupke am 16. September in BerlinMichael Hinz

Zupke sieht die Gefahr, dass ein Lenin, der irgendwo rumsteht, von vielen Menschen eventuell überhaupt nicht kritisch hinterfragt werde. Womöglich würden sogar positive Vorstellungen damit verbunden. Sie beklagt blinde Flecken in der Gesellschaft, eine nicht ausreichende Beschäftigung mit dem historischen Hintergrund auch der SED-Diktatur. „Man muss diesem Mythos entgegenwirken, dass eigentlich alles ganz gut anfing. Denn das stimmt einfach nicht. Viele Menschen haben immer noch den Irrglauben, dass es eigentlich gute Ideen sind“, sagt Zupke. Zu selten werde thematisiert, „welche Gewaltspur diese Ideologie in der Geschichte der Menschen zurückgelassen hat, die Millionen Toten seit 1917. Diese Realitäten werden ausgeblendet, und das halte ich für gefährlich.“ Bei vielen Menschen habe man das Gefühl, dass sie denken: „Diese kleine Diktatur da. So schlimm war es doch gar nicht. Also habt euch mal nicht so.“

Den Lenin in Schwerin kümmert das alles nicht. Er steht inzwischen unter Denkmalschutz. Lenin zu erhalten zeige an, dass die heutige Gesellschaft stark genug und willens sei, sich mit Symbolen der Vergangenheit auseinanderzusetzen, hieß es in der Denkmalwertbegründung. „Unsinn“, sagt Sigurd Blümcke zu so etwas. Für seine toten Freunde haben er, seine Frau und ein Freund von damals vor nunmehr 17 Jahren eine Gedenkstätte in Werder errichtet, eine letzte symbolische Ruhestätte und eine Mahnung gegen das Vergessen. „Wehret den Anfängen“, soll sie allen Besuchern zuflüstern. Blümcke glaubt zwar nicht, dass solche Zeiten, wie die, die er erlebt hat, wieder in Deutschland anbrechen. Doch er hat Angst, dass die Freiheit nicht genügend verteidigt werde, sagt er. Dieses schöne Leben, das es in Westdeutschland seit 1949 und in Ostdeutschland seit 1990 gibt. Nunmehr seit 35 Jahren.

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